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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag
Autoren: Val McDermid
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dem Ort noch zu seiner Vergangenheit hatten. »Trotzdem brauche ich auch die Angaben zu Ihrer Person«, erklärte sie.
    Misha runzelte leicht die Stirn, dann gab sie eine Adresse in Edinburgh an. Karen sagte die Anschrift nichts; obwohl sie nur dreißig Meilen von der Hauptstadt entfernt wohnte, waren ihre Kenntnisse der sozialen Gegebenheiten dort von provinzieller Unzulänglichkeit. »Und Sie möchten jemanden als vermisst melden«, fuhr sie fort.
    Misha zog scharf die Luft ein und nickte. »Meinen Vater. Mick Prentice. Also eigentlich Michael, genau genommen.«
    »Und wann ist Ihr Vater verschwunden?« Jetzt könnte es interessant werden, dachte Karen. Sollte es überhaupt jemals interessant werden.
    »Wie ich dem Mann unten schon sagte, vor zweiundzwanzig Jahren und sechs Monaten. Am Freitag, dem vierzehnten Dezember 1984, haben wir ihn zum letzten Mal gesehen.« Misha Gibson zog die Augenbrauen zusammen und blickte störrisch und finster drein.
    »Das ist eine ziemlich lange Zeit, um jemanden dann erst vermisst zu melden«, bemerkte Karen.
    Misha seufzte und wandte den Kopf, um aus dem Fenster zu sehen. »Wir glaubten nicht, dass er verschwunden war. Nicht direkt.«
    »Ich kann Ihnen nicht folgen. Was meinen Sie mit ›nicht direkt‹?«
    Misha drehte sich um und hielt Karens beharrlichem Blick stand. »Hört sich so an, als seien Sie aus der Gegend hier.«
    Karen fragte sich, worauf das hinauslaufen würde, und erwiderte: »Ich bin in Methil aufgewachsen.«
    »Also, nichts für ungut, aber Sie sind alt genug, um sich zu erinnern, was 1984 los war.«
    »Der Streik der Bergleute?«
    Misha nickte. Ihr Kinn war weiterhin vorgeschoben, und sie starrte sie trotzig an. »Ich bin in Newton of Wemyss aufgewachsen. Mein Vater war Bergmann. Vor dem Streik arbeitete er unten in der Lady Charlotte. Sie werden sich erinnern, was die Leute in dieser Gegend damals sagten: Niemand sei streitbarer als die Kumpel von Lady Charlotte. Trotzdem verschwand in einer Nacht im Dezember nach neun Monaten Streik ein halbes Dutzend von ihnen. Na ja, ich sage, sie verschwanden, aber alle kannten die Wahrheit. Nämlich dass sie nach Nottingham zu den Streikbrechern gingen.« Ihr Gesicht verzog sich krampfhaft, als kämpfe sie gegen einen körperlichen Schmerz an. »Bei fünf von ihnen war niemand allzu überrascht, dass sie den Streik unterliefen. Aber meine Mum erzählt, alle seien fassungslos gewesen, dass mein Dad sich ihnen anschloss. Sie selbst auch.« Sie sah Karen flehentlich an. »Ich war zu klein, um mich erinnern zu können. Aber alle sagen, er war durch und durch Gewerkschaftsmann. Der Letzte, von dem man erwartet hätte, dass er zum Streikbrecher werden könnte.« Sie schüttelte den Kopf. »Trotzdem, was sollte sie sonst denken?«
    Karen verstand nur zu gut, was ein solcher Treuebruch für Misha und ihre Mutter bedeutet haben musste. In dem radikalen Kohlegebiet Fife gab es nur Sympathie für diejenigen, die durchhielten. Mick Prentice’ Verhalten hatte seine Familie bestimmt sofort zu Parias gemacht. »Es war für Ihre Mutter bestimmt nicht leicht«, sagte sie.
    »In einer Hinsicht war es total einfach«, entgegnete Misha bitter. »Was meine Mutter betraf, war’s das. Für sie war er tot. Sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er schickte Geld, aber sie spendete es dem Unterstützungsfonds für Notfälle. Später, als der Streik vorbei war, gab sie es dem Wohlfahrtsverband für Bergarbeiter. Ich bin in einem Haus aufgewachsen, in dem der Name meines Vaters nie erwähnt wurde.«
    Karen spürte einen Kloß im Hals, ein Gefühl zwischen Anteilnahme und Mitleid. »Er hat sich nie gemeldet?«
    »Nur sein Geld kam. Immer in gebrauchten Scheinen. Immer mit einem Nottinghamer Poststempel.«
    »Misha, ich hoffe, es klingt nicht herzlos, aber für mich hört es sich nicht so an, als sei Ihr Vater verschollen.« Karen bemühte sich, ihre Stimme so sanft wie möglich klingen zu lassen.
    »Das dachte ich auch nicht. Bis ich ihn suchen ging. Glauben Sie mir, Inspector. Er ist nicht dort, wo er sein sollte. Er war nie dort. Und es ist absolut nötig, ihn ausfindig zu machen.«
    Die schiere Verzweiflung in Mishas Stimme überraschte Karen. Sie erschien ihr interessanter als Mick Prentice’ Aufenthaltsort. »Wieso?«, fragte sie.

[home]
Dienstag, 19. Juni 2007,
Edinburgh
    M isha Gibson war nie auf die Idee gekommen, zu zählen, wie oft sie schon voller Empörung aus dem Kinderkrankenhaus getreten war, weil die Welt trotz des
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