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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag
Autoren: Val McDermid
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seinen Enkel zu kümmern.«
    »Er hat Geld geschickt«, stellte Karen fest.
    »Hier und da ein paar Pfund. Blutgeld«, erwiderte Misha. »Wie gesagt, meine Mum hat es nicht angerührt. Sie hat es verschenkt. Ich hatte nie einen Nutzen davon.«
    »Vielleicht hat er versucht, sich mit Ihrer Mum zu versöhnen. Eltern sprechen nicht immer mit uns über unbequeme Wahrheiten.«
    Misha schüttelte den Kopf. »Sie kennen meine Mum nicht. Selbst jetzt, da Lukes Leben in Gefahr ist, ist es ihr nicht recht, dass ich versuche, meinen Dad zu finden.«
    Karen dachte zwar, das sei ein ziemlich schwacher Grund dafür, einen Mann zu meiden, der vielleicht die Zukunft eines Jungen retten konnte. Aber sie wusste, welche tiefen Gefühle es in den alten Bergwerksgemeinden gab. So ließ sie es dabei bewenden. »Sie sagen, er war nicht dort, wo er sein sollte. Was ist passiert, als Sie nach ihm gesucht haben?«

[home]
Donnerstag, 21. Juni 2007,
Newton of Wemyss
    J enny Prentice holte einen Beutel Kartoffeln aus dem Gemüsefach und begann sie zu schälen, den Oberkörper über die Spüle gebeugt, den Rücken ihrer Tochter zugewandt. Mishas Frage hing unbeantwortet zwischen ihnen und erinnerte sie beide an die Barriere, die die Abwesenheit des Vaters von Anfang an zwischen ihnen errichtet hatte. Misha versuchte es noch einmal. »Ich sagte …«
    »Ich hab dich schon gehört. Meine Ohren sind in Ordnung«, unterbrach sie Jenny. »Und die Antwort ist, ich hab nicht die geringste Ahnung. Wie soll ich wissen, wo man nach dem egoistischen Drecksack von Streikbrecher suchen könnte? Wir sind die letzten zweiundzwanzig Jahre ohne ihn klargekommen. Es gab nie einen Grund, nach ihm zu suchen.«
    »Aber jetzt gibt es einen.« Mischa starrte auf die runden Schultern ihrer Mutter. Das schwache Licht, das durch das kleine Küchenfenster hereinfiel, betonte die Silberfäden in ihrem ungefärbten Haar. Sie war kaum über fünfzig, schien aber das mittlere Alter übersprungen zu haben und direkt auf die gebeugte Haltung einer verletzlichen alten Frau zuzusteuern. Es war, als hätte sie vorausgesehen, dass dieser Angriff eines Tages kommen würde, und hätte beschlossen, ihr bedauernswertes Aussehen zu ihrer Verteidigung einzusetzen.
    »Er wird uns nicht helfen«, erklärte Jenny verächtlich. »Er hat doch gezeigt, was er von uns hielt, als er wegging und uns die Suppe auslöffeln ließ. Er hat immer nur für sich selbst gesorgt.«
    »Vielleicht. Aber wegen Luke müssen wir es trotzdem versuchen«, beharrte Misha. »War auf den Kuverts mit dem Geld nie ein Absender vermerkt?«
    Jenny schnitt eine geschälte Kartoffel in der Mitte durch und warf sie in einen Topf mit Salzwasser. »Nein. Er machte sich nicht mal die Mühe, einen kurzen Brief in den Umschlag zu stecken. Nur ein Bündel dreckige Geldscheine, das war alles.«
    »Und die Männer, mit denen er wegging?«
    Jenny warf Misha kurz einen vernichtenden Blick zu. »Was mit denen war? Sie haben sich hier in der Gegend nie mehr sehen lassen.«
    »Aber manche von ihnen haben doch hier oder in East Wemyss noch Familie. Brüder, Cousins. Vielleicht wissen die etwas über meinen Vater.«
    Jenny schüttelte entschieden den Kopf. »Seit er gegangen ist, habe ich nie jemand von ihm sprechen hören. Kein Wort, weder gut noch böse. Die andern Männer, mit denen er ging, waren nicht seine Freunde. Der einzige Grund, mit ihnen zu fahren, war, dass er kein Geld hatte, auf eigene Faust in den Süden zu kommen. Er hat sie wahrscheinlich ausgenutzt, genau wie uns, und ist dann, kaum angekommen, einfach seinen eigenen Weg gegangen.« Sie warf noch eine Kartoffel in den Topf und erkundigte sich ohne große Begeisterung: »Willst du zum Abendessen bleiben?«
    »Nein, ich hab noch zu tun«, antwortete Misha ungeduldig, weil ihre Mutter ihre Suche nicht ernst nahm. »Es muss doch jemanden geben, mit dem er Kontakt gehalten hat. Mit wem hätte er wohl gesprochen? Wem hätte er von seinen Plänen erzählt?«
    Jenny richtete sich auf und stellte den Topf auf den altmodischen Gasherd. Jedes Mal wenn Misha und John zur Zeremonie des Sonntagsessens Platz nahmen, boten sie an, den angeschlagenen und abgenutzten Herd zu ersetzen. Aber wie jedes andere freundliche Angebot lehnte Jenny auch dies mit der gleichen irritierenden Opfermiene ab. »Da hast du ebenfalls kein Glück«. Sie ließ sich auf einem der zwei Stühle nieder, die in der engen Küche zu beiden Seiten des winzigen Tisches standen. »Er hatte nur einen richtigen
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