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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag
Autoren: Val McDermid
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konnte. Das hat jedenfalls meine Mutter erzählt.« Nicht einmal die Andeutung eines Zweifels war auf Mishas Gesicht zu sehen.
    Karen machte sich eine Notiz
Andy Kerrs Schwester
und fügte ein kleines Sternchen hinzu. »Wenn sich also Andy umgebracht hat, sind wir wieder beim Streikbrechen als einziger vernünftiger Erklärung für das Verschwinden Ihres Vaters. Haben Sie versucht, mit den Männern Kontakt aufzunehmen, mit denen er weggegangen sein soll?«

[home]
Montag, 25. Juni 2007,
Edinburgh
    E s war zehn nach neun am Montagmorgen, und Misha war bereits erschöpft. Eigentlich sollte sie jetzt in der Kinderklinik sein und sich auf Luke konzentrieren. Mit ihm spielen, ihm vorlesen, die Mediziner überreden, ihre Therapie zu erweitern, die Behandlungspläne mit dem Pflegepersonal besprechen, all ihre Energie einsetzen, um sie mit ihrer eigenen Überzeugung anzustecken, dass ihr Sohn gerettet werden konnte. Und wenn er gerettet werden konnte, schuldeten ihm alle, dass man ihm jede nur mögliche therapeutische Maßnahme angedeihen ließ.
    Aber stattdessen saß sie mit dem Rücken zur Wand und angezogenen Knien auf dem Boden, das Telefon auf dem Schoß und den Notizblock neben sich. Sie redete sich ein, sie sei dabei, allen Mut für den Anruf zusammenzukratzen, wusste aber irgendwo im Hinterkopf, dass der wahre Grund für ihre Untätigkeit Erschöpfung war.
    Andere Familien nutzten das Wochenende, um sich zu entspannen und ihre Akkus wieder aufzuladen. Nicht so die Gibsons. Zunächst war in der Klinik weniger Personal im Dienst, und Misha und John fühlten sich verpflichtet, noch mehr Energie als sonst für Luke aufzubringen. Auch wenn sie nach Hause kamen, gab es keine Ruhe. Mishas fester Glaube, die letzte Hoffnung für ihren Sohn bestehe darin, ihren Vater zu finden, hatte den Konflikt zwischen ihrem missionarischen Eifer und Johns passivem Optimismus noch mehr angeheizt.
    An diesem Wochenende war es schwieriger gewesen als sonst. Dass Lukes Leben eine Zeitgrenze gesetzt worden war, machte jeden gemeinsamen Augenblick noch kostbarer, aber auch schmerzlicher. Es war schwer, nicht in melodramatische Sentimentalität zu verfallen. Sobald sie am Samstag das Krankenhaus verlassen hatten, wiederholte Misha immer wieder den Satz, den sie vorbrachte, seit sie ihre Mutter gesehen hatte. »Ich muss nach Nottingham, John. Das weißt du doch.«
    Er steckte die Hände in die Taschen seiner Regenjacke und schob den Kopf vor, als ginge er gegen einen starken Wind an. »Ruf den Typ einfach an«, erwiderte er. »Wenn er dir etwas zu sagen hat, kann er das auch am Telefon machen.«
    »Vielleicht aber nicht.« Sie machte zwei schnelle Schritte, um mitzuhalten. »Die Leute sagen einem immer mehr, wenn man sie direkt vor sich hat. Er könnte mir vielleicht den Kontakt zu anderen verschaffen, die zusammen mit ihm runtergegangen sind. Vielleicht wissen die etwas.«
    John schnaubte. »Und wieso kann sich deine Mutter nur an einen Namen erinnern? Wieso kann sie nicht die Verbindung zu anderen herstellen?«
    »Ich hab es dir doch gesagt. Sie hat alles über die Zeit damals verdrängt. Ich musste sie wirklich bearbeiten, bis sie wenigstens mit Logan Laidlaws Namen herausrückte.«
    »Und du findest es nicht erstaunlich, dass der einzige Mann, an dessen Namen sie sich erinnern kann, keine Familie in der hiesigen Gegend hat? Dass es keine klaren Anhaltspunkte gibt, um ihn aufzuspüren?«
    Misha hakte sich bei ihm unter, teilweise um ihn zu bremsen. »Aber ich habe ihn doch aufgespürt, oder? Du bist zu misstrauisch.«
    »Nein, das bin ich nicht. Deine Mutter begreift nicht, was im Internet alles möglich ist. Sie weiß nichts über Dinge wie Online-Wählerverzeichnisse oder Suchmaschinen wie 192.com. Sie glaubt, wenn es keinen Menschen gibt, den du fragen kannst, bist du aufgeschmissen. Sie meinte, sie hätte dir nichts gesagt, das dir nützen konnte. Sie will nicht, dass du in der Sache herumstocherst, und wird dir nicht helfen.«
    »Das macht ja dann zwei, die mir nicht helfen wollen.« Misha ließ ihn los und ging vor ihm her.
    John holte sie an der Ecke ihrer Straße ein. »Das ist unfair«, sagte er. »Ich will nur nicht, dass dir unnötig weh getan wird.«
    »Und wenn ich zusehe, wie mein Kind stirbt, und nichts tue, um es zu retten, meinst du etwa, das würde mir nicht weh tun?« Misha spürte den Zorn heiß und rot in ihre Wangen aufsteigen, und brennende Tränen der Wut lauerten dicht unter der Oberfläche. Sie wandte sich von ihm ab
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