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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag
Autoren: Val McDermid
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einer Knochenmarkspende von einem anderen Familienmitglied bestand. Die Ärzte nannten das eine Mismatch-Transplantation von verwandtem Material. Zuerst hatte dies Misha verwirrt. Sie hatte von Datenbanken für Knochenmarkspender gelesen und angenommen, dass die größte Hoffnung darin liege, dort einen perfekt passenden Spender zu finden. Aber der Arzt erklärte ihnen, das Knochenmark von einem Familienmitglied, auch wenn es nicht perfekt passe, sondern nur einige mit Luke übereinstimmende Gene hätte, stelle ein niedrigeres Komplikationsrisiko dar als eine perfekt passende Spende von jemandem außerhalb der erweiterten Familie des Patienten.
    Seitdem war Misha die Genzusammensetzungen auf beiden Seiten der Familie durchgegangen, hatte Überredungskunst, emotionale Erpressung und sogar das Versprechen von Belohnungen für entfernte Cousins und ältere Tanten eingesetzt. Es hatte einige Zeit in Anspruch genommen, da es eine Einzelmission war. Denn John hatte sich hinter der Mauer seines unrealistischen Optimismus verschanzt. Es würde bald einen Durchbruch in der Stammzellenforschung geben. Ein Arzt würde irgendwo eine Therapie entdecken, die nicht von der Voraussetzung übereinstimmender Gene abhing. Ein perfekt passender Spender würde irgendwo in einer Datenbank auftauchen. John sammelte gute Geschichten mit glücklichem Ausgang. Er durchforstete das Internet nach Fällen, die bewiesen, dass die Ärzte unrecht hatten. Jede Woche förderte er neue medizinische Wunder und anscheinend unerklärliche Heilmethoden zutage. Und daraus schöpfte er seine Hoffnung. Er sah keinen Sinn in Mishas ständigen Bemühungen und war sicher, dass alles schon irgendwie gut werden würde. Seine Fähigkeit, die Augen vor der Realität zu verschließen, war kolossal.
    Dafür hätte sie ihn am liebsten umgebracht.
    Aber stattdessen ging sie die Zweige ihrer jeweiligen Stammbäume auf der Suche nach dem perfekten Kandidaten weiter durch. Erst vor ungefähr einer Woche, wenige Tage vor dem schrecklichen Urteil, war sie in diese endgültige Sackgasse geraten. Es gab nur eine einzige Möglichkeit. Aber sie hatte gebetet, gerade diese nicht in Betracht ziehen zu müssen.
    Bevor sie diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, fiel ein Schatten auf sie. Sie blickte auf und machte sich darauf gefasst, jedem energisch entgegenzutreten, der sie stören wollte. »John«, begrüßte sie ihn müde.
    »Ich dachte doch, dass ich dich hier irgendwo finden würde. Dies ist das dritte Lokal, in dem ich es probiert habe«, sagte er, schob sich auf die Bank in der Nische und rutschte unbeholfen weiter, bis er im rechten Winkel und nah genug neben ihr saß, dass sie sich berühren konnten, wenn einer von ihnen das wollte.
    »Ich hätte jetzt nicht in eine leere Wohnung gehen können.«
    »Das kann ich verstehen. Was haben sie gesagt?« Sein markantes Gesicht verzog sich vor Angst. Nicht wegen des ärztlichen Urteils, dachte sie, denn er hielt seinen kostbaren Sohn immer noch für unbesiegbar. Sondern es war ihre Reaktion, die John Sorge machte.
    In dem Wunsch nach Kontakt als auch nach Trost ergriff sie seine Hand. »Es wird Zeit. Ohne Transplantation höchstens sechs Monate.« Sie fand sogar selbst, dass ihre Stimme kalt klang. Aber Wärme konnte sie sich nicht leisten. Wärme würde ihren starren Gemütszustand lösen, und hier war nicht der rechte Ort für den Ausbruch von Kummer oder Liebe.
    John umklammerte ihre Finger fest mit seiner Hand. »Vielleicht ist es noch nicht zu spät«, widersprach er. »Vielleicht werden sie …«
    »Bitte, John. Nicht jetzt.«
    Seine Schultern im Jackett strafften sich, sein Körper spannte sich an, während er mit seiner abweichenden Meinung an sich hielt. »Also«, sagte er mit einem tiefen Atemzug, der mehr einem Seufzer glich. »Ich nehme an, du wirst nach dem Dreckskerl suchen?«

[home]
Mittwoch, 27. Juni 2007,
Glenrothes
    K aren kratzte sich mit ihrem Kuli am Kopf.
Warum bekomme ich all die guten Fälle?
»Warum haben Sie so lange nichts getan, um Ihren Vater zu finden?«
    Sie bemerkte einen flüchtigen Ausdruck von Irritation um Mishas Mund und Augen. »Weil ich mit dem Gedanken aufgewachsen bin, dass mein Vater ein egoistischer, dreckiger Streikbrecher ist. Was er getan hat, hat meine Mutter aus ihrer eigenen Dorfgemeinschaft vertrieben. Deshalb wurde ich auf dem Spielplatz und später in der Schule angegriffen. Ich dachte, ein Mann, der seine Familie so im Stich ließ, würde sich kaum die Mühe machen, sich um
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