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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition)
Autoren: H. J. Anderegg
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KAPITEL 1
     
Le Noirmont, Schweizer Jura
    A ls er das zweite Mal hinsah, hatte sich die schleimige Schnecke verändert. Michel traute seinen Augen nicht. Seit Jahren hatte er nichts Unanständiges mehr geraucht. Auch der ›Marc‹, das zugegeben etwas reichliche Digestif gestern Abend, musste längst verdunstet sein. Nein, er war clean wie das Quellwasser im Brunnen vor dem Bauernhaus. Es konnte keine Einbildung sein: unter seinen Augen entstand aus dem seltsamen, amöbenartigen Gallertklecks eine Kolonie winziger Pilze. Zehn, zwanzig niedliche, gelbe Hütchen auf zittrigen Beinchen. Er schaute gebannt auf die unwirkliche Szene, erwartete jeden Augenblick, dass sich der Pilzwald in wer weiß was verwandelte oder ihm ins Gesicht springen würde. Wie aus einer anderen Welt erschien ihm dieses unbegreifliche Ding, dessen Anblick für ein paar Augenblicke alle anderen Gedanken verdrängte.
    Die ersten schweren Tropfen klatschten durch das Blätterdach auf das in allen Rot-, Gelb- und Brauntönen leuchtende Laub. Seine Gedanken kehrten in den herbstlichen Wald zurück, der so wunderbar nach feuchten Blättern, Harz und Pilzen duftete. Zurück zum Felsvorsprung an der Steilwand, hoch über dem Doubs. Zurück zum Moosteppich, auf dem er kauerte, über das weiße Gesicht seines Freundes gebeugt, der mit gebrochenem Genick und verrenkten Gliedern am Boden lag, und aus dessen Nase die unheimliche Schnecke gekrochen war.
    Es war der Morgen des fünften Tages. Es sollte ein Tag werden, herrlich und unbeschwert wie die Tage zuvor, die er mit seinen Freunden in dieser wilden, urtümlichen jurassischen Hügellandschaft verbracht hatte.
    Damien hatte sie gewarnt. Sein alter Bauernhof, halb versteckt hinter mächtigen Tannen auf der Hochebene über Le Noirmont im Schweizer Jura, war nichts für die verwöhnte Jugend aus der Stadt. Aber genau das hatte ihn und seine Freunde gereizt am ungewöhnlichen Ferienhaus seines Mentors Damien Fabre, Professor der Neurologie an der Pariser Université Pierre et Marie Curie. Ein paar Tage weg von der Zivilisation, eintauchen in eine längst vergangene Zeit ohne elektrischen Strom, Zentralheizung und Mikrowelle. Für ihn, Michel Simon, Doktor der Medizin, Neurologe und Neurochirurg, waren diese paar Tage im Jura ein einziges tiefes Atemholen vor dem Antritt seiner neuen Stelle in der Pariser Salpêtrière. Seine vier Freunde mochten ähnlich empfinden. Jedenfalls schienen sie diese Pause in ihrem Leben auf der Überholspur zutiefst zu genießen.
    Seine Gedanken wanderten zurück zum Tag ihrer Ankunft. Stumm standen sie vor dem blendend weiß getünchten Kalkstein-Gemäuer, nachdem sie ihre Luxuskarossen und Sportwagen auf der Wiese vor dem Haus abgestellt hatten. Als seine Hütte bezeichnete Damien das uralte Bauernhaus mit dem grandiosen Rundbogentor und den spärlichen, kleinen Fenstern, unter dessen gewaltigem Schindeldach sich Wohnung, Remise, Werkstatt und die ehemaligen Stallungen verbargen. Ohne die üblichen zynischen Sprüche zogen sie im Gänsemarsch durch das Tor in den Vorhof, dem dunklen Gang entlang zur Küche mit dem schweren, abgenutzten Eichentisch bei der Eckbank, dem offenen Holzherd mit dem schwarzen Loch für die Wasserpfanne. Spuren moderner Errungenschaften wie Kühlschrank oder Wasserhahn fehlten offensichtlich. Selbst Alain, der spitzzüngige Aussteiger mit dem klingenden Namen Chevalier, seit kurzem Klatschreporter beim ›Le Parisien‹, enthielt sich angesichts dieser Zeitreise in die bescheidene Welt Rousseaus jeden Kommentars.
    »Wir brauchen einen Plan«, bemerkte Patrick endlich, während er sich etwas hilflos umsah. Für Patrick Fournier musste dieses Gefühl der Unsicherheit neu sein. Er war ein brillanter Kernphysiker, ein ›X‹, Alumnus der Grande École Polytechnique und trotz seiner Jugend bereits gefürchteter Chefinspektor bei der ASN, der Behörde für nukleare Sicherheit, die über Gedeih und Verderb der für Frankreich so wichtigen Kernkraftwerke bestimmte. Hier in dieser alten Küche aber fehlte Patrick jeder bekannte Referenzpunkt, er schaute seine Freunde geradezu leidend an, ein Entwurzelter.
    Belustigt antwortete Michel: »Messieurs, willkommen in Damiens einfacher Hütte. Patrick hat recht. Je primitiver das Leben, desto besser muss es organisiert werden, scheint mir.«
    »Er hat den fixfertigen Plan in der Tasche, wetten? Her damit!«, riefen alle durcheinander.
    »Quatsch, aber wenn ihr schon unfähig seid, euch in die Zeit vor der
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