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Tod und Leidenschaft (German Edition)

Tod und Leidenschaft (German Edition)

Titel: Tod und Leidenschaft (German Edition)
Autoren: Cassandra Norton
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    Wenn der Wind aus östlicher Richtung weht, drängen die Toten bis in meine gute Stube.
    Für die bin ich ein feiner Herr, weil ich eine Wohnung im Parterre eines roten Backsteinhauses am Ende einer Sackgasse bewohne.
    Früher war der Dreck nur in bestimmten Straßen, aber mit den Jahren kam er immer näher. Der Schlamm in den Straßen, der einen an manchen Tagen bis zu den Knöcheln versinken lässt, kommt immer näher.
    In diesem Schlamm ist alles.
    Es sind nur wenige Monate her, da habe ich eine Puppe dort gefunden. Eine Puppe, deren Glieder so verdreht waren, weil die Pferdehufe und die Menschenstiefel sie hin und her getreten hatten.
    Ich war neugierig geworden, als ich ein kleines Mädchen sah, das sich, vor Dreck starrend, der Puppe näherte, offensichtlich hoffnungsfroh, ein Spielzeug entdeckt zu haben.
    Doch das Mädchen – ein rücksichtsvoller Mensch hatte ihren Schädel gegen die Läuse kahlgeschoren – betrachtete die Puppe und zog sich dann langsam, rückwärtsgehend, in den Eingang eines Hauses zurück.
    Ich nahm ihren Platz ein, bückte mich ein wenig und dann sah ich die weit aufgerissenen, mit Schlamm bespritzten Pupillen. Es waren nicht die gläsernen eines Spielzeugs. Es waren die starren Pupillen eines Menschen!
    Mein Magen hob sich und Schweiß brach in Strömen aus meiner Stirn. Ich taumelte. Mein Fuß stieß gegen etwas Festes. Im letzten Moment, selbst Gefahr laufend, in den stinkenden Schlamm zu stürzen, konnte ich mich an den Steinen eines Hauses abstützen.
    Im gleichen Moment schaukelte eine Karre an mir vorbei und sowohl Hufe, als auch Räder trampelten den Säugling so tief in die Jauche, dass nichts mehr von ihm zu sehen war, als der Wagen passiert hatte.
    Und in diesem Moment wusste ich es! Ich wusste, dass diese Gegend, diese Stadt rettungslos verloren sind.
    Der Abfall, durch den alle hier waten ist nichts anderes, als ein Abbild des menschlichen Abschaums, der abgestumpft, ausgehungert und brutal wie eine Horde Vieh alles niedermacht, was sich ihm in den Weg stellt.
    Und von diesem Augenblick an, habe ich diese Welt mit anderen Augen gesehen. Gerade so, als habe der Allmächtige meine Augen genommen und jene des toten Säuglings gegeben.
    Mein Abscheu wuchs mit jedem Tag. Mein Ekel vor den an jeder Ecke herumlungernden Halsabschneidern. Das Würgen in meiner Kehle beim Anblick der verlausten Huren, die ihre abgenutzten Leiber jedem dahergelaufenen Lumpensammler gegen ein paar Farthings anboten. Jener Münze, deren Wert zu gering ist, als dass ein anständiger Engländer sie auch nur kennen würde.
     
    Der Nebel ist dick und dreckig. Er klebt in der Nase, im Mund und in der Kehle. Er kriecht wie zähflüssiger Brei in die Lungen und wenn man hustet, so spuckt man eine graue Masse.
    Der Londoner Nebel ist nicht der Nebel, den man auf dem Land kennt.
    Dort ist der Nebel licht und weiß. Er schwebt über sattgrünen Feldern wie der Schleier einer jungfräulichen Braut und wenn die Sonne stark genug ist, oder der weiche Landregen fällt, löst er sich in süße Erinnerung auf.
    Der Nebel in London dagegen ist ein wächsernes Leichentuch. Er ist immer da. In den besseren Vierteln putzen und wischen die Frauen tagein tagaus, um ihn von ihren Möbeln und aus ihren Kleidern zu kriegen. Aber wie soll das gehen, wenn er ohne Unterlass im Darm dieser Kloake aus menschlichem Abschaum Tag für Tag neu produziert wird?
    Ich stehe an meinem Fenster.
    Da draußen … dort sind sie. Eine bösartige, dumpfe brütende Masse. Sie schiebt sich immer näher an mein Haus heran.
    Wer es sich leisten konnte, ist lange schon verschwunden aus meiner Straße. Das rote Backsteinhaus steht leer, von meiner Wohnung abgesehen. Ich könnte auch die anderen Räume benutzen. Doch sie gehören mir nicht. Ich habe Anstand bewahrt!
    Und mit jedem Tag, an dem ich zu meiner Arbeit gehe, kommt der Schlamm dieses vergifteten Uterus näher an meine Straße heran. Wenn ich das Fenster öffne , kann ich ihn riechen. Er will in meine Adern, in meine Organe kriechen. Aber ich widerstehe!!!
    Ich wasche mich. Wieder und wieder. Meine Arme sind rot, die Armbeugen und Handflächen wund. Aber besser, als den Schmutz in sich aufzunehmen.
    Meine Knie zittern, jetzt da ich hinaus muss, um mein Brot zu verdienen. Meine Hände greifen unsicher nach meiner Tasche. Die Hand brennt, in der ich sie trage. Wie schwach doch mein Körper ist im Angesicht des Feindes. Aber mein Geist ist stark! Meine Wille nicht zu brechen!
    Zwei Straßen
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