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Nacht in Havanna

Nacht in Havanna

Titel: Nacht in Havanna
Autoren: Martin Cruz Smith
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über die Straße spazierten, abbremsen mußte, erfaßten die Scheinwerfer eine Wand mit der Aufschrift Venceremos! Arkadi versuchte, das Wort stumm zu lesen, doch die Kommissarin ertappte ihn dabei. »Venceremos! bedeutet: >Wir werden siegen!< Trotz Amerika und Rußland werden wir siegen!«
    »Trotz der Geschichte, der Geographie und des Gesetzes der Schwerkraft?«
    »Trotz alledem! In Moskau gibt es solche Spruchbänder nicht mehr, oder?«
    »Wir haben auch Plakate. Darauf steht jetzt nur >Nike< und >Absolut<.«
     
    Der Blick, den sie ihm zuwarf, war auch nicht vernichtender als der Feuerstoß eines Flammenwerfers. Als sie das Apartment der Botschaft erreichten, erklärte die Kommissarin ihm, daß er in zwei Stunden von einem Fahrer abgeholt und zum Flugplatz gebracht werde. »Und Ihr Freund wird Sie begleiten.«
    »Wollen wir hoffen, daß es wirklich der Oberst ist.« Diese Bemerkung traf die Kommissarin mehr, als er beabsichtigt hatte. »Ein lebendiger Russe, ein toter Russe, es ist schwer, den Unterschied zu erkennen.«
    »Da haben Sie recht.«
     
    Arkadi ging allein nach oben. Im Haus oder draußen spielte eine Rumba, er wußte nicht mehr zu sagen, wo, wußte nur, daß die permanente Musik ihn erschöpfte.
    Er schloß die Tür auf und zündete sich eine Zigarette an, wobei er sorgfältig darauf achtete, daß keine Glut auf seinen Ärmel fiel. Es war der Kaschmirmantel, den Irina ihm zur Hochzeit geschenkt hatte, ein weicher, wehender, schwarzer Umhang, in dem er, wie sie sagte, wie ein Dichter aussah. Und weil er darauf bestand, dazu die dünnen russischen Schuhe und die schäbige Hose zu tragen, wirkte er noch mehr wie ein Künstler. Es war ein Glücksmantel, kugelsicher. Er war wie ein Heiliger in Rüstung durch eine Schießerei auf dem Arbat gewandelt und hatte erst später begriffen, daß niemand auf ihn gefeuert hatte, weil er in seinem Wundermantel weder an einen Gangster noch an einen Polizisten erinnerte.
    Doch was noch wichtiger war, an dem Mantel haftete ein vager Hauch von Irinas Parfüm, ein Geheimnis, ein greifbares Gefühl von ihr, und wenn der Gedanke an sie unerträglich wurde, war dieser Duft sein letzter Verbündeter gegen ihren Verlust.
     
    Es war seltsam, daß die Kommissarin ihn gefragt hatte, ob er ein guter Ermittler war. Er hatte ihr nicht erzählt, daß seine Arbeit in Moskau in letzter Zeit unter »Unaufmerksamkeiten« gelitten hatte, wie das offiziell genannt wurde. Wenn er überhaupt zur Arbeit ging. Oft blieb er, den Mantel als Decke über sich gebreitet, tagelang im Bett und stand nur gelegentlich auf, um Teewasser zu kochen. Wartete auf den Abend, bevor er seine Wohnung verließ, um Zigaretten zu holen. Ignorierte die Besuche von Kollegen, die an seine Tür klopften. Die Risse im Putz seiner Zimmerdecke in Moskau erinnerten ihn unbestimmt an die Umrisse Westafrikas, und wenn er nach oben starrte, konnte er den Moment abpassen, wo das Licht so schräg durch das Fenster fiel, daß Unebenheiten im Putz zu Bergen wurden, Risse zu einem Netzwerk aus Flüssen und Nebenflüssen. Seinen schwarzen Mantel als Flagge gehißt, lief sein Schiff jeden Hafen an.
    Unaufmerksamkeit war das größte aller Verbrechen. Er hatte alle Arten von Opfern gesehen, von beinahe unberührten Leichen im Bett bis zu niedergemetzelten, monströs entstellten Toten, und er mußte feststellen, daß sie in der Regel noch immer am Leben sein und über einen gut erzählten Witz lachen könnten, wenn jemand einem Messer, einer Schrotflinte oder einer Spritze mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte.
    Es war, als würde man an Bord einer Fähre einen schmalen Sund überqueren, und obwohl es nur eine kurze Strecke war, kamen Wind und Wellen auf, und das Schiff sank. Und man stürzte ins kalte Wasser, den Menschen, den man liebte, fest im Arm. Um sein Leben zu retten, mußte man nur darauf achten, ihn nicht loszulassen. Und dann blickte man auf, und die eigenen Hände waren leer. Unaufmerksamkeit. Schwäche. Die aus eigener Schuld Verdammten durchlebten nicht ohne Grund längere Nächte als die anderen. Weil sie ständig versuchten, die Zeit umzukehren, um zu jenem in der Erinnerung verblassenden, schicksalhaften Augenblick zurückzukehren und nicht loszulassen. Vor allem nachts, wenn sie sich konzentrieren konnten.
     
    Im Dunkel seines Zimmers sah er die Poliklinik in einer Seitenstraße des Arbat, wohin er, ganz besorgter Liebhaber, Irina zur Behandlung einer Infektion gebracht hatte. Sie hatte aufgehört zu rauchen -
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