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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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John bot ihm einen Drink an, und als die beiden ihren Scotch mit Soda ausgetrunken hatten, machten sie sich daran, Trauses Testament umzuschreiben. Das alte war vor über sieben Jahren aufgesetzt worden und entsprach, was die Aufteilung seines Nachlasses betraf, nicht mehr Johns Wünschen. Als Tina gestorben war, hatte er Jacob zu seinem Alleinerben bestimmt, allerdings erst ab dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr; bis dahin sollte das Vermögen von seinem Bruder Gilbert verwaltet werden. Jetzt enterbte Trause seinen Sohn, indem er vor den Augen des Anwalts alle diesbezüglichen Dokumente in Fetzen riss. Dann setzte Byrd ein neues Testament auf, das Johns gesamten Besitz auf Gilbert übertrug. Bargeld, Aktien und Wertpapiere, Immobilien und künftige Tantiemeneinnahmen aus Trauses literarischen Arbeiten – das alles sollte nun sein jüngerer Bruder erben. Um halb sechs waren sie fertig. John gab Byrd die Hand, dankte ihm für seine Hilfe, und der Anwalt verließ mit drei unterschriebenen Ausfertigungen des neuen Testaments die Wohnung. Zwanzig Minuten später machte John sich wieder an die Korrektur seines Romans. Um acht brachte Madame Dumas ihm das Abendessen, und um halb zehn rief noch einmal Eleanor an und erzählte, Jacob habe einen Platz in der Smithers-Klinikbekommen und sei dort seit vier Uhr an diesem Nachmittag.
    Am Freitag hätte Trause im Saint Vincent’s Hospital sein Bein untersuchen lassen sollen, aber da er vergaß, in den Kalender zu schauen, ging er nicht hin. Bei dem ganzen Durcheinander um Jacob hatte er den Termin vollkommen vergessen, und genau in dem Augenblick, da er bei seinem Arzt hätte sein sollen (einem Gefäßchirurgen namens Willard Dunmore), saß er am Telefon und sprach mit mir, erzählte von der lebenslangen Abneigung seines Sohnes gegen Grace und bat mich, am Samstag für ihn in die Smithers-Klinik zu gehen. Gillespie zufolge rief der Arzt John um halb zwölf in seiner Wohnung an und fragte, warum er nicht ins Krankenhaus gekommen sei. Als Trause erklärte, es habe einen Notfall in der Familie gegeben, hielt Dunmore seinem Patienten eine zornige Predigt über die Wichtigkeit der Untersuchung und behauptete, eine so lässige Einstellung zur eigenen Gesundheit sei unverantwortlich und könne schlimme Folgen nach sich ziehen. Trause fragte, ob er am Nachmittag kommen könne, aber Dunmore sagte, dafür sei es zu spät, es gehe erst wieder am Montag um sechzehn Uhr. Er schärfte Trause ein, an seine Medizin zu denken und sich am Wochenende so wenig wie möglich zu bewegen. Als Madame Dumas um ein Uhr in die Wohnung kam, fand sie Trause an seinem gewöhnlichen Platz auf dem Sofa, mit der Korrektur seines Buchs beschäftigt.
    Am Samstag, als ich Jacob in der Klinik besuchte und mich in Changs Laden um das rote Notizbuch prügelte, setzte Trause die Arbeit an seinem Roman fort. Aus seiner Telefonabrechnung geht hervor, dass er an diesem Tag auch drei Ferngespräche führte: eins mit Eleanor inEast Hampton, eins mit seinem Bruder Gilbert in Ann Arbor (er war Professor für Musikwissenschaft an der University of Michigan) und eins mit seiner Literaturagentin Alice Lazarre in ihrem Wochenendhaus in den Berkshires. Er berichtete ihr, er komme mit dem Buch gut voran, und falls in den nächsten Tagen keine unvorhergesehenen Schwierigkeiten auftauchten, könne sie für Ende der Woche mit dem fertigen Manuskript rechnen.
    Am Sonntagmorgen rief ich ihn von Landolfi’s aus an und erstattete ihm Bericht über meinen Besuch bei Jacob. Dann beichtete ich ihm, dass ich seine Erzählung verloren hatte, und John lachte. Wenn ich nicht irre, lachte er eher erleichtert als belustigt. Es ist schwer, das genau zu beurteilen, aber ich glaube, es waren sehr komplexe Motive, die Trause veranlasst hatten, mir diese Erzählung zu geben – und die Behauptung, er wolle mir damit Stoff für einen Film zur Verfügung stellen, war bloß ein Vorwand, bestenfalls ein zweitrangiges Motiv. Die Geschichte handelte von den mörderischen Machenschaften einer politischen Verschwörung, parallel dazu ging es um ein Dreiecksverhältnis (eine Ehefrau, die mit dem besten Freund ihres Mannes durchbrennt), und wenn an den Spekulationen, die ich am siebenundzwanzigsten in dem Notizbuch aufgezeichnet hatte, etwas dran war, hatte John mir die Erzählung vielleicht als Kommentar zum Zustand meiner Ehe mitgegeben – als indirekten Kommentar in den fein nuancierten Chiffren und Metaphern der Literatur. Es spielte keine Rolle, dass die
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