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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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Schlüssel draußen klingeln und sich über die Gegensprechanlage melden mussten, um hineinzugelangen. Ich erinnere mich, dass ich keine Schuhe anhatte, und als ich vom Sofa stieg und zur Tür ging, stieß ich mir einen kleinen Splitter in den linken Fuß. Ich erinnere mich auch, dass ich auf die Uhr sah und dass es halb neun war. Ich fragte nicht, wer da sei. Ich machte einfach die Tür auf, und mit dieser Bewegung wurde die Welt zu einer anderen Welt. Ich weiß nicht, wie ich das sonst sagen soll. Ich öffnete die Tür, und das Ding, das sich in den vergangenen Tagen in mir entwickelt hatte, war plötzlich real: vor mir stand die Zukunft.
    Es war Jacob. Er hatte sich die Haare schwarz gefärbt und war in einen langen dunklen Mantel gehüllt, der ihm bis zu den Knöcheln reichte. Die Hände tief in den Taschen, ungeduldig auf den Fußballen wippend, sah er aus wie ein futuristischer Leichenbestatter, der einen Verstorbenen abholen wollte. Der grünhaarige Clown, mit dem ich am Samstag gesprochen hatte, war schon beunruhigend genug gewesen, aber dieses neue Wesen machte mir Angst. Ich wollte ihn nicht hereinlassen. «Du musst mir helfen», sagte er. «Ich bin echt in Schwierigkeiten, Sid,und ich habe sonst keinen, zu dem ich gehen kann.» Und ehe ich ihn wegschicken konnte, hatte er sich an mir vorbei in die Wohnung geschoben und die Tür hinter sich zugemacht.
    «Geh in die Klinik zurück», sagte ich. «Ich kann nichts für dich tun.»
    «Ich kann nicht zurück. Die haben rausgefunden, dass ich da war. Wenn ich dahin zurückgehe, bin ich tot.»
    «
Die?
Wer sind die? Von wem redest du da?»
    «Richie und Phil. Die glauben, ich schulde ihnen Geld. Wenn ich denen nicht fünftausend Dollar gebe, bringen sie mich um.»
    «Ich glaube dir kein Wort, Jacob.»
    «Nur wegen denen bin ich in die Klinik gegangen. Nicht wegen meiner Mutter. Um mich vor denen zu verstecken.»
    «Ich glaube dir immer noch nicht. Aber selbst wenn, könnte ich dir nicht helfen. Ich habe keine fünftausend Dollar. Ich habe nicht mal fünfhundert Dollar. Ruf deine Mutter an. Wenn sie dich abweist, ruf deinen Vater an. Aber halt Grace und mich da raus.»
    Ich hörte die Toilettenspülung hinten im Flur, ein Zeichen, dass Grace jetzt gleich wieder erscheinen würde. Von dem Geräusch alarmiert, wandte Jacob den Blick in die Richtung, und als er Grace mit dem Schwangerschaftsbuch in der Hand ins Wohnzimmer kommen sah, trat ein breites Lächeln auf sein Gesicht. «Hallo, Grace», sagte er. «Lange nicht mehr gesehen.»
    Grace blieb wie angewurzelt stehen. «Was macht der denn hier?», fragte sie, an mich gewandt. Sie wirkte wie gelähmt, in ihrer Stimme schwang unterdrückte Wut mit, und sie sah demonstrativ nicht in Jacobs Richtung.
    «Er will sich Geld leihen», sagte ich.
    «He, Gracie», sagte Jacob mit halb gereiztem, halb sarkastischem Tonfall. «Willst du nicht mal Hallo zu mir sagen? Ich meine, es kostet doch nichts, höflich zu sein, oder?»
    Als ich da stand und die beiden beobachtete, musste ich an das zerrissene Foto denken, das nach dem Einbruch auf dem Sofa gelegen hatte. Der Rahmen war gestohlen worden, aber nur jemand, der einen tiefen, langjährigen Groll gegen die Person auf dem Foto hegte, hätte sich die Mühe gemacht, das Bild in kleine Stücke zu reißen. Ein Profi hätte das nicht getan. Aber Jacob war kein Profi; sondern ein verzweifelter, von Drogen verwirrter Junge, der nichts unversucht gelassen hatte, um uns wehzutun – um seinem Vater wehzutun, indem er dessen besten Freunden eins auswischte.
    «Das reicht jetzt», sagte ich zu ihm. «Sie will nicht mit dir reden, und ich auch nicht. Du bist der Einbrecher, der uns vorige Woche bestohlen hat. Du bist hier durchs Küchenfenster eingestiegen und hast herumgewütet, und dann hast du alles mitgenommen, was irgendwie von Wert war. Soll ich ans Telefon gehen und die Polizei rufen, oder gehst du freiwillig? Eine andere Wahl hast du nicht. Glaub mir, ich hole die Polizei mit dem größten Vergnügen. Ich zeige dich an, und der Richter schickt dich ins Gefängnis.»
    Ich hatte erwartet, dass er den Vorwurf bestreiten und sich beleidigt darüber geben würde, dass ich es wagen konnte, so etwas von ihm zu denken, aber der Junge war noch viel schlauer. Er stieß einen schön modulierten, reumütigen Seufzer aus, ließ sich auf einen Stuhl sinken und bewegte langsam den Kopf hin und her, als sei er schockiertüber sein eigenes Verhalten. Es war dieselbe Art von heuchlerischer
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