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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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Tagen, aber ich habe keinerlei Erinnerung mehr daran, weder an sie noch an irgendein Gespräch, das ich mit ihnen hatte. Der Überfall hatte Montagabend stattgefunden, und bereits am Dienstagmorgen waren Graces Eltern mit dem Flugzeug aus Virginia eingetroffen. Am Nachmittag kam ihre Cousine Lily mit dem Auto aus Connecticut. Darcy und Flo, ihre jüngeren Schwestern, kamen am nächsten Morgen. Weitere Besucher waren Betty Stolowitz und Greg Fitzgerald. Mary Sklarr. Mr. und Mrs.   Caramello. Ich muss mit ihnen gesprochen, muss gelegentlich das Zimmer verlassen haben, aber in meiner Erinnerung sitze ich immer nur bei Grace. Dienstag und Mittwoch war sie die meiste Zeit nicht bei vollem Bewusstsein – döste, schlief, war allenfalls einige Minuten lang wach   –, aber am Mittwochabend schien es ihr besser zu gehen, und die klaren Phasen wurden allmählich etwas länger. In dieser Nacht schlief sie tief und fest, und als sie am Donnerstagmorgen aufwachte, erkannte sie mich endlich wieder. Ich nahm ihre Hand, und als unsere Handflächen sich berührten, murmelte sie meinen Namen und wiederholte ihn für sich noch mehrere Male, und wie sie dieses einsilbige Wort aussprach, klang es wie eine Beschwörung, die sievon einem Gespenst wieder zu einem lebenden Menschen machen konnte.
    «Ich bin im Krankenhaus, oder?», sagte sie.
    «Im Methodistenkrankenhaus in Park Slope», antwortete ich. «Und ich sitze neben dir und halte deine Hand. Das ist kein Traum, Grace. Wir sind wirklich hier, und dir geht es Stunde für Stunde besser.»
    «Werde ich sterben?»
    «Nein, du wirst nicht sterben.»
    «Er hat mich zusammengeschlagen, ja? Er hat mich geschlagen und getreten, und ich weiß noch, dass ich gedacht habe, jetzt muss ich sterben. Wo warst du, Sid? Warum hast du mir nicht geholfen?»
    «Ich hatte ihn von hinten gepackt, aber ich konnte ihn nicht von dir wegreißen. Ich musste ihn mit einem Messer bedrohen. Ich hätte ihn umgebracht, Grace, aber er ist einfach weggelaufen. Dann habe ich die Polizei gerufen, und der Krankenwagen hat dich hierher gebracht.»
    «Wann war das?»
    «Vor drei Tagen.»
    «Und was habe ich da im Gesicht?»
    «Einen Verband. Und eine Nasenschiene.»
    «Er hat mir die Nase gebrochen?»
    «Ja. Und eine Gehirnerschütterung hast du auch. Aber deinem Kopf geht es schon besser, stimmt’s? Du kommst wieder zu dir.»
    «Was ist mit dem Baby? Ich habe ganz schlimme Bauchschmerzen, Sid, und ich kann mir denken, was das bedeutet. Lass das bitte nicht wahr sein.»
    «Doch, leider. Alles andere wird wieder gut werden, aber das nicht.»

 
    Am Tag darauf wurde Trauses Asche auf einer Wiese im Central Park verstreut. Es mögen an diesem Morgen dreißig oder vierzig von uns gewesen sein, eine Versammlung von Freunden, Verwandten und Schriftstellerkollegen; Vertreter irgendeiner Religion waren nicht anwesend, und das Wort
Gott
kam keinem der Redner über die Lippen. Grace wusste nicht, dass John gestorben war, und ihre Eltern und ich hatten beschlossen, die Mitteilung so lange wie möglich hinauszuschieben. Bill begleitete mich zu der Feierlichkeit, während Sally bei Grace im Krankenhaus blieb – man hatte Grace gesagt, ich bringe ihren Vater zum Flughafen, weil er nach Virginia zurückmüsse. Ihre Genesung machte zwar Fortschritte, aber einen Schlag dieser Größenordnung konnte sie noch nicht verkraften. Zwei Tragödien auf einmal sind zu viel, erklärte ich ihren Eltern; eine genügt erst mal. Wie die einzelnen Tropfen, die aus dem Plastikbeutel in den an Graces Arm befestigten Schlauch fielen, würde die bittere Arznei in kleinen Dosen verabreicht werden müssen. Der Verlust des Kindes war fürs Erste mehr als genug. John konnte warten, bis sie so weit bei Kräften war, dass sie es mit dem nächsten Trauerfall aufnehmen konnte.
    Jacob wurde bei der Feier nicht erwähnt, aber in meinen Gedanken war er anwesend, als ich im strahlenden Licht dieses Herbstmorgens stand und mir die Lobesreden von Johns Bruder und Bill und einigen anderen Freunden anhörte. Schrecklich, zu sterben, bevor man die Chance hat, alt zu werden, sagte ich mir; bitter, sich vorzustellen, was er noch alles hätte schreiben können. Aber wenn John jetzt hatte sterben müssen, dachte ich, dann war es sicher besser, dass er am Montag gestorben war, nicht am Dienstag oder Mittwoch. Hätte er nochvierundzwanzig Stunden länger gelebt, dann hätte er erfahren, was Jacob Grace angetan hatte, und daran wäre er garantiert zugrunde gegangen. So aber
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