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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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Selbstkritik, von der er mir am Samstag erzählt hatte, als er mit seinen schauspielerischen Talenten prahlte. «Tut mir Leid», sagte er. «Aber was ich dir von Richie und Phil erzählt habe, ist wahr. Die sind hinter mir her, und wenn ich denen nicht ihre fünftausend Dollar gebe, jagen sie mir eine Kugel in den Kopf. Als ich neulich hier war, wollte ich mir bloß dein Scheckbuch ausleihen, aber das hab ich nicht gefunden. Also hab ich ein paar andere Sachen mitgenommen. Das war bescheuert. Tut mir wirklich Leid. Das Zeug war sowieso nicht viel wert, und ich hätte das nicht tun sollen. Wenn du willst, gebe ich dir morgen alles zurück. Ich habe die Sachen noch bei mir in der Wohnung, und morgen früh bringe ich alles wieder her.»
    «Blödsinn», sagte Grace. «Du hast längst alles verkauft, was du konntest, und den Rest hast du weggeschmissen. Spiel uns nicht den zerknirschten kleinen Jungen vor, Jacob. Dafür bist du jetzt zu groß. Du hast uns vorige Woche ausgeraubt, und jetzt willst du noch mehr.»
    «Diese Typen werden mich einen Kopf kürzer machen», sagte er. «Die wollen das Geld. Morgen. Ich weiß, dass ihr knapp bei Kasse seid, aber mein Gott, Gracie, dein Vater ist Richter. Der zuckt doch nicht mit der Wimper, wenn du ihn fragst, ob er dir was leihen kann. Ich meine, was sind denn fünftausend Dollar für einen reichen alten Mann aus den Südstaaten?»
    «Vergiss es», sagte ich. «Wir werden Bill Tebbetts auf gar keinen Fall in diese Sache reinziehen.»
    «Wirf ihn raus, Sid», sagte Grace; ihre Stimme bebte vor Zorn. «Ich kann das nicht ertragen.»
    «Ich dachte, wir sind eine Familie», gab Jacob zurück und starrte Grace an, als wolle er sie zwingen, ihn anzusehen. Er schien gekränkt, aber auf seltsam unaufrichtige Weise, als mache er sich über sie lustig und versuche ihre Abneigung gegen ihn zu seinem Vorteil auszunutzen. «Immerhin bist du doch praktisch so was wie meine inoffizielle Stiefmutter, oder? Früher jedenfalls. Zählt das denn gar nichts?»
    Inzwischen war Grace schon auf dem Weg zur Küche. «Ich rufe die Polizei», sagte sie. «Wenn du das nicht machst, Sid, dann tu ich es eben. Ich will dieses Schwein nicht in meiner Wohnung haben.» Um zum Telefon in der Küche zu gelangen, musste sie jedoch an dem Stuhl vorbei, auf dem Jacob saß, und noch ehe sie so weit gekommen war, war er schon aufgestanden und versperrte ihr den Weg. Bis dahin war die Auseinandersetzung ausschließlich verbal gewesen. Wir drei hatten geredet, und wie widerlich das auch gewesen sein mochte, ich war nicht darauf vorbereitet, dass es in körperliche Gewalt umschlagen würde. Ich stand neben dem Sofa, gut drei Meter von dem Stuhl entfernt, und als Grace sich an Jacob vorbeizuschieben versuchte, packte er sie am Arm und sagte: «Nicht die Polizei, du blöde Kuh. Deinen Vater. Wenn du hier einen anrufst, dann den Richter – und nur, um ihn nach dem Geld zu fragen.» Grace versuchte sich seinem Griff zu entwinden und warf sich herum wie ein wütendes Tier, aber Jacob war zwei Handbreit größer als sie, und so hatte er nicht nur den längeren Hebel, sondern konnte sie auch von oben attackieren. Ich stürzte auf ihn zu, gebremst von meinen schlaffen Muskeln und dem Splitter in meinem Fuß, und als ich ankam, hatte Jacob schon ihre Schultern umklammert und knallte sie an dieWand. Ich sprang ihn von hinten an, versuchte ihm meine Arme um den Oberkörper zu schlingen und ihn von ihr wegzuzerren, aber der Junge war stark, viel stärker, als ich erwartet hatte, und ohne sich auch nur umzudrehen, hieb er mir seinen Ellbogen in den Magen. Der Schlag nahm mir die Luft und warf mich zu Boden, und bevor ich den nächsten Angriff starten konnte, rammte er Grace eine Faust in den Mund und trat sie mit seinen schweren Lederstiefeln in den Bauch. Sie versuchte sich zu wehren, aber jedes Mal wenn sie aufstand, schlug er sie ins Gesicht, knallte sie an die Wand und schleuderte sie zu Boden. Aus ihrer Nase strömte Blut, als ich zum nächsten Angriff bereit war, aber ich wusste, ich war zu schwach, zu entkräftet, ich konnte nichts gegen ihn ausrichten, ich konnte ihn mit meinen lahmen Fäusten nicht aufhalten. Grace war inzwischen halb bewusstlos und stöhnte nur noch, und mir wurde die Gefahr bewusst, dass er sie tatsächlich totschlagen könnte. Statt direkt auf ihn loszugehen, rannte ich in die Küche und nahm ein großes Tranchiermesser aus der obersten Schublade neben der Spüle. «Aufhören!», schrie ich. «Aufhören,
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