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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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Jacob, oder ich bringe dich um!» Ich glaube, zuerst hat er mich nicht gehört. Er war völlig von seiner Wut übermannt, ein rasender Zerstörer, der kaum noch zu wissen schien, was er tat, aber als ich mit erhobenem Messer auf ihn losging, muss er mich aus den Augenwinkeln bemerkt haben. Er drehte den Kopf nach links, und als er mich mit dem Messer in der Hand auf sich zukommen sah, hörte er plötzlich auf, sie zu schlagen. Seine Augen flackerten wild, Schweiß tropfte ihm von der Nase auf das schmale, zitternde Kinn. Ich war mir sicher, dass er sich auf mich stürzen würde, und ich hätte nicht gezögert, ihm das Messer in den Leib zurammen, doch als sein Blick auf Grace fiel, die blutend und reglos am Boden lag, ließ er die Arme sinken und sagte bloß: «Vielen Dank, Sid. Jetzt bin ich ein toter Mann.» Damit drehte er sich um, verließ die Wohnung und verschwand in den Straßen von Brooklyn, kurz bevor Polizei und Krankenwagen vor dem Haus vorfuhren.

 
    Grace verlor das Kind. Mit seinen Stiefeltritten hatte Jacob alles in ihrem Bauch durcheinander gebracht, und der dann einsetzende Blutstrom hatte den winzigen Embryo aus seiner Verankerung im Uterus gelöst und elendiglich mit sich fortgerissen. Spontanabort, wie die Ärzte sagen; eine Fehlgeburt; ein Leben, das nicht zur Welt gekommen war. Man brachte sie über den Gowanus Canal in das Methodistenkrankenhaus in Park Slope, und ich saß, eingeklemmt zwischen Sauerstoffflaschen und zwei Sanitätern, neben ihr hinten im Krankenwagen, den Blick auf ihr armes zerschlagenes Gesicht fixiert, hemmungslos zitternd und immer wieder von Krämpfen geschüttelt, die mir von der Brust aus durch den ganzen Körper fuhren. Ihre Nase war gebrochen, die linke Gesichtshälfte mit Hämatomen übersät, das rechte Augenlid so zugeschwollen, dass ich mich fragte, ob sie auf diesem Auge jemals wieder würde sehen können. Im Krankenhaus schob man sie ins Röntgenzimmer im Parterre und anschließend nach oben in einen OP, wo die Ärzte sich zwei Stunden lang mit ihr beschäftigten. Ich weiß nicht, wie ich die Wartezeit überstanden habe, aber während die Chirurgen ihre Arbeit taten, konnte ich mich gerade noch lange genugzusammenreißen, um Graces Eltern in Charlottesville anzurufen. Von ihnen erfuhr ich, dass John gestorben war. Ich bekam Sally Tebbetts ans Telefon, und am Ende unseres erschöpfenden, endlosen Gesprächs sagte sie, vor wenigen Stunden habe Gilbert angerufen und ihr die Nachricht überbracht. Sie und Bill seien bereits tief betroffen, sagte sie, und jetzt erzähle ich ihr, dass Johns Sohn versucht habe, ihre Tochter umzubringen. Ob die Welt verrückt geworden sei?, fragte sie, und dann konnte sie nicht mehr sprechen und begann zu weinen. Sie gab das Telefon an ihren Mann weiter, und Bill Tebbetts kam gleich zur Sache und stellte mir die einzige Frage, die jetzt zu stellen war: Wird Grace durchkommen? Ja, sagte ich, sie wird durchkommen. Sicher konnte ich mir da noch nicht sein, aber ich hatte nicht vor, ihm zu erzählen, dass Grace sich in einem kritischen Zustand befand und womöglich nicht überleben würde. Ich wollte nichts beschreien. Wenn Worte töten konnten, musste ich meine Zunge sorgfältig in Zaum halten und darauf achten, keine Zweifel oder negativen Gedanken zu äußern. Ich war nicht von den Toten zurückgekehrt, um meine Frau sterben zu sehen. John zu verlieren, war schlimm genug, und noch jemanden zu verlieren kam nicht in Frage. Das durfte nicht geschehen. Auch wenn ich da nicht mitzureden hatte, ich würde das einfach nicht zulassen.
    Die nächsten zweiundsiebzig Stunden saß ich an Graces Bett und wich nicht von ihrer Seite. Ich wusch und rasierte mich im Bad nebenan, verzehrte meine Mahlzeiten, während ich die klare Flüssigkeit durch den Schlauch in ihren Arm rinnen sah, und lebte nur für die seltenen Momente, da sie das gesunde Auge aufmachte und ein paar Worte zu mir sprach. Dank der vielen Schmerzmittelin ihrem Organismus hatte sie offenbar keine Erinnerung an das, was Jacob ihr angetan hatte, und war sich auch nur schemenhaft bewusst, dass sie im Krankenhaus lag. Drei-, viermal fragte sie mich, wo sie sei, döste aber gleich wieder weg und vergaß auf der Stelle, was ich ihr geantwortet hatte. Oft wimmerte sie im Schlaf, stöhnte leise, wenn sie an ihr bandagiertes Gesicht stieß, und einmal wachte sie mit Tränen in den Augen auf und fragte: «Warum habe ich solche Schmerzen? Was ist mit mir los?»
    Leute kamen und gingen in diesen
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