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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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würde er sich nie der Tatsache stellen müssen, dass er ein Monstrum gezeugt hatte, nie mit der Bürde des Verbrechens leben müssen, das sein Sohn an der Frau begangen hatte, die er über alles in der Welt geliebt hatte. Jacob war zum Tabu geworden, aber mein Hass auf ihn war grenzenlos, und ich freute mich nur auf den Moment, wenn die Polizei ihn endlich geschnappt haben würde und ich vor Gericht gegen ihn aussagen konnte. Zu meinem unendlichen Bedauern ist es nie dazu gekommen. Als wir im Central Park seinen Vater betrauerten, war Jacob schon tot. Keiner von uns konnte das zu diesem Zeitpunkt gewusst haben, denn es vergingen noch zwei Monate, ehe seine verwesende Leiche gefunden wurde – in eine schwarze Plastikplane gewickelt, in einem Müllcontainer auf einer verlassenen Baustelle nicht weit vom Harlem River in der Bronx. Er hatte zwei Kugeln im Kopf. Richie und Phil waren keine Phantome gewesen, und als sie ein Jahr später vor Gericht standen und der Obduktionsbericht verlesen wurde, kam heraus, dass die zwei Kugeln aus zwei verschiedenen Waffen abgefeuert worden waren.
    Am selben Tag (1.   Oktober) erreichte der von Madame Dumas in Manhattan eingeworfene Brief sein Ziel in Brooklyn. Ich fand ihn in meinem Briefkasten, als ich aus dem Central Park nach Hause kam (wo ich mich umziehen wollte, um dann wieder ins Krankenhaus zu fahren), und da auf dem Umschlag kein Absender stand, erfuhr ich erst, als ich ihn nach oben getragen und geöffnet hatte, von wem er war. Trause hatte den Brief mit der Hand geschrieben, und die Schrift war so zerklüftet, so hektischhingeworfen, dass ich sie nur mit Mühe entziffern konnte. Ich musste den Text mehrmals durchgehen, bis es mir gelang, die Rätsel dieser unleserlichen Schleifen und Striche zu knacken, aber als ich dann die Zeichen in Worte übertrug, begann ich Johns Stimme zu hören – eine lebendige Stimme, die von der anderen Seite des Todes, von der anderen Seite des Nichts zu mir sprach. Als ich im Umschlag den Scheck entdeckte, traten mir Tränen in die Augen. Ich sah Johns Asche im Park aus der Urne rieseln. Ich sah Grace in ihrem Krankenhausbett liegen. Ich sah mich die Seiten des blauen Notizbuchs zerreißen, und dann nahm ich – mit den Worten von Johns Schwager Richard – mein Gesicht in die Hände und schluchzte mir die Seele aus dem Leib. Ich weiß nicht, wie lange ich geweint habe, aber schon als mir die Tränen aus den Augen strömten, war ich glücklich, glücklicher als je zuvor, am Leben zu sein. Und dieses Glücksgefühl war jenseits von Trost, jenseits von Elend, jenseits alles Hässlichen und Schönen auf der Welt. Schließlich versiegten die Tränen, und ich ging ins Schlafzimmer und zog mir frische Sachen an. Zehn Minuten später war ich wieder auf der Straße, unterwegs zum Krankenhaus, auf dem Weg zu Grace.

Impressum
    Die Originalausgabe erschien 2003 bei Henry Holt, New York, unter dem Titel «Oracle Night»
     
    Redaktion Juliane Gräbener-Müller
     
    Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2012
    Copyright © 2004 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
    «Oracle Night» Copyright © 2003 by Paul Auster
    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
    Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther
    Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
    Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
    ISBN Buchausgabe 978   -   3   -   499   -   23987   -   8 (1.   Auflage 2005)
    ISBN Digitalbuch 978   -   3   -   644   -   02091   -   7
    www.rowohlt-digitalbuch.de
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