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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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glaube ich, dass Trause Recht gehabt hat. Manchmal wissen wir Dinge, bevor sie passieren, auch wenn wir nicht wissen, dass wir sie wissen. Ich bin durch diese neun Tage im September 1982 gestolpert wie durch dichten Nebel. Ich habe versucht, eine Erzählung zu schreiben, und bin in eine Sackgasse geraten. Ich habe versucht, die Idee für einen Film zu verkaufen, und bin abgewiesen worden. Ich habe das Manuskript meines Freundes verloren, ich habe beinahe meine Frau verloren, und so inbrünstig ich sie liebte, habe ich in einem finsteren Sexclub ohne zu zögern die Hose heruntergelassen und mich in den Mund einer Fremden geschoben. Ich war kaputt, ich war krank, ich war einer, der wieder Halt zu finden suchte, aber jenseits all der Fehltritte und Torheiten, die ich in dieser Woche beging,habe ich etwas gewusst, dessen ich mir nicht bewusst war. In gewissen Augenblicken hatte ich an diesen Tagen das Gefühl, mein Körper sei durchsichtig geworden, eine poröse Membran, durch die alle unsichtbaren Kräfte der Welt hineinwehen konnten – geballte elektrische Ladungen, die von den Gedanken und Gefühlen anderer ausgingen. Ich vermute, ein solcher Zustand hat zur Geburt von Lemuel Flagg geführt, dem blinden Helden von
Nacht des Orakels,
der für die Schwingungen in seiner Umgebung so empfänglich war, dass er wusste, was passieren würde, ehe die Ereignisse selbst stattfanden. Ich bekam das nicht bewusst mit, aber jeder Gedanke, der mir in den Kopf kam, wies mich in diese Richtung. Tote Babys, Gräuel in Konzentrationslagern, Mordanschläge auf Präsidenten, verschwundene Ehegatten, merkwürdige Reisen in Vergangenheit und Zukunft. Die Zukunft war bereits in mir, und ich rüstete mich für die Katastrophen, die mir bevorstanden.

 
    Ich hatte Trause am Mittwoch zum Lunch gesehen, aber außer den zwei Telefonaten später in dieser Woche hatte ich keinen weiteren Kontakt mehr mit ihm, bis ich mir am siebenundzwanzigsten das blaue Notizbuch vom Hals schaffte. Wir hatten über Jacob gesprochen und über das verlorene Manuskript von Johns alter Erzählung, aber das war’s auch schon, und ich hatte keine Ahnung, was er in diesen Tagen eigentlich machte – außer auf dem Sofa liegen und sein Bein schonen. Erst 1994, als James Gillespie
Das Labyrinth der Träume: John Trause, eine Biographie
veröffentlichte, erfuhr ich endlich in allen Einzelheiten, was John zwischen dem zweiundzwanzigsten und dem siebenundzwanzigsten getrieben hatte. Gillespies gewaltiges, sechshundert Seiten starkes Werk bietet nur knappe literarische Analysen und beschäftigt sich nur am Rande mit dem historischen Kontext von Johns Büchern, ist aber außerordentlich gründlich, wo es um biographische Fakten geht, und wenn ich bedenke, dass er zehn Jahre an diesem Projekt gearbeitet und offenbar mit jedem, der Trause jemals begegnet war, gesprochen hat (mich selbst eingeschlossen), habe ich keinen Grund, an der Exaktheit seiner Chronologie zu zweifeln.
    Nachdem ich am Mittwoch Johns Wohnung verlassen hatte, beschäftigte er sich bis zum Abend mit Korrekturen und kleineren Änderungen am Typoskript seines Romans
Das seltsame Los des Gerald Fuchs,
den er offenbar einige Tage vor Ausbruch seines Phlebitis-Anfalls beendet hatte. Ich hatte damals vermutet, dass er an diesem Buch schrieb, war mir aber nie sicher gewesen: ein Manuskript von knapp unter fünfhundert Seiten, von dem Gillespie sagt, Trause habe in seinen letzten Monaten in Portugal damit angefangen, was bedeuten würde, dass er über vier Jahre daran gearbeitet hatte. So viel zu den Gerüchten, John habe nach Tinas Tod nichts mehr geschrieben. So viel zu den Gerüchten, ein ehemals großer Schriftsteller habe seinen Beruf aufgegeben und lebe nur noch von seinen früheren Leistungen – ein Ausgebrannter, der nichts mehr zu sagen habe.
    An diesem Abend rief Eleanor an und berichtete, Jacob sei gefunden worden, und am nächsten Morgen, Donnerstag, rief Trause als Erstes seinen Anwalt an, Francis W.   Byrd. Anwälte machen selten Hausbesuche,aber Byrd hatte Trause seit über zehn Jahren vertreten, und wenn ein Klient von Johns Kaliber seinem Anwalt mitteilt, er liege mit einem kranken Bein auf dem Sofa und müsse ihn um vierzehn Uhr in einer dringenden Angelegenheit sprechen, wird der Anwalt seine anderen Termine absagen und pünktlich zur Stelle sein, ausgerüstet mit allen nötigen Papieren und Dokumenten, die er zuvor aus seinem Aktenschrank geholt hat. Byrd erschien also in der Barrow Street,
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