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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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Nachmittag trug, zu diesem Eindruck beigetragen haben: schwarze Jeans, weißes T-Shirt und ein mattblaues Leinenja ckett . Etwa fünf Minuten nach ihrem Eintreten legte sie das Jackett ab und hängte es über ihre Stuhllehne, und als ich ihre Arme sah, diese langen, glatten, unendlich weiblichen Arme, wusste ich bereits, dass ich erst wieder Ruhe finden würde, wenn ich sie berühren konnte, wenn ich das Recht erworben hatte, meine Hände auf ihren Körper zu legen und ihre bloße Haut zu streicheln.
    Aber ich möchte nicht an der Oberfläche von Graces Körper bleiben, möchte mehr als die zufälligen Gegebenheiten ihrer physischen Existenz. Natürlich sind Körper wichtig – wichtiger, als wir zuzugeben bereit sind   –, aber wir verlieben uns nicht in Körper, wir verlieben uns ineinander, und mag auch vieles von dem, was wir sind, auf Fleisch und Knochen beschränkt sein, so gibt es doch auch manches andere. Wir alle wissen das, aber sobald wir über den Katalog von oberfläch lichen Eigenschaften und Äußerlichkeiten hinauswollen, gehen uns die Worte aus und zerfallen in mystisches Gefasel und nebulöse, substanzlose Metaphern. Manche nennen das
die Flamme des Seins.
Andere sprechen vom
inneren Funken
oder vom
inneren Licht des Ich.
Wiederum andere sprechen vom
Feuer der Wesenheit.
Stets handelt es sich um Bilder von Wärme und Licht, und jene Energie, die Essenz des Lebens, die wir manchmal als
Seele
bezeichnen, wird einem anderen Menschen immer durch die Augen vermittelt. Zweifellos hatten die Dichter Recht, auf diesem Punkt zu beharren. Das Mysterium des Verlangens beginnt mit dem Blick in die Augen des Geliebten, weil man nur dort etwas vom Wesen des anderen erhaschen kann.
    Graces Augen waren blau. Dunkelblau mit grauen, auch mit einigen braunen oder haselnussbraunen Einsprengseln. Es waren komplexe Augen, Augen, die je nach Intensität und Tö nung des in sie einfallenden Lichts die Farbe wechselten, und als ich sie an jenem Tag in Bettys Büro zum ersten Mal sah, kam mir der Gedanke, dass ich noch nie eine Frau gesehen hatte, die eine solche Gemütsruhe ausstrahlte, eine solche Gelassenheit: es war, als befinde sich Grace, die damals noch keine siebenundzwanzig war, bereits auf einer höheren Seinsebene als wir anderen. Ich will damit nicht sagen, dass sie in irgendeiner Weise reserviert wirkte, dass sie in einer glückse ligen Wolke von Herablassung oder Gleichgültigkeit über ihren Lebensumständen schwebte. Im Gegenteil, sie war wäh rend der ganzen Besprechung durchaus lebhaft, lachte gern, lächelte, sagte immer das Richtige und machte dazu die richtigen Gesten; doch hinter ihrem professionellen Umgang mit den Ideen, die Betty und ich ihr vorlegten, verspürte ich einen auffallenden Mangel an innerer Anspannung, eine Ausgeglichenheit, die sie der üblichen Konflikte und Aggressionen des modernen Lebens zu entheben schienen: Selbstzweifel, Neid, Sarkasmus, das Bedürfnis, andere zu bewerten oder herabzusetzen, der brennende, unerträgliche Schmerz persönlicher Ambitionen. Grace war jung, ihre Seele aber war alt und verwittert, und als ich an diesem ersten Tag mit ihr bei Holst & McDermott saß, ihr in die Augen sah und die Konturen ihres schlanken, kantigen Körpers studierte, verliebte ich mich in genau das: in die Ruhe, die sie umhüllte, in das strahlende Schweigen, das in ihr loderte.
    Bowen jedoch machte ich mit Absicht zu jemandem, der ich nicht bin, zum Gegenteil meiner selbst. Ich bingroß, also machte ich ihn klein. Ich habe rötliches Haar, also gab ich ihm dunkelbraunes. Ich habe Schuhgröße fünfundvierzig, also steckte ich ihn in Größe zweiundvierzig. Ich gestaltete ihn nach keinem mir bekannten Vorbild (jedenfalls nicht bewusst), aber kaum hatte ichihn mir im Kopf zusammengesetzt, wurde er erstaunlich lebendig – es war beinahe, als könnte ich ihn sehen, beinahe, als sei er ins Zimmer getreten und stünde nun neben mir, als legte er mir eine Hand auf die Schulter, beugte sich über den Schreibtisch und läse mit, was ich zuPapier brachte   … als sähe er mir zu, wie ich ihn mit meiner Feder zum Leben erweckte.
    Schließlich winkt Nick sie auf den Stuhl ihm gegenüber am Schreibtisch, und Rosa nimmt Platz. Es folgt ein längeres verlegenes Schweigen. Nick kann zwar wiederatmen, aber es fällt ihm nichts ein, was er sagen könnte. Rosa bricht das Eis mit der Frage, ob er am Wochenende Zeit gefunden habe, das Buch zu lesen. Nein, antwortet er, es ist zu spät hier angekommen.
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