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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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Abend noch einmal seinen Weg hat kreuzen lassen, geht ganz in Gedanken und ohne auf seine Umgebung zu achten zum Briefkasten an der Ecke. Er nimmt die Briefe aus der Aktentasche und wirft sie in den Kasten. In ihm ist etwas zerbrochen, denkt er, und zum ersten Mal seit Beginnseiner Schwierigkeiten mit Eva ist er bereit, sich seine wahre Lage einzugestehen: dass seine Ehe gescheitert, dass sein Leben in eine Sackgasse geraten ist. Statt kehrtzumachen und sofort den Heimweg anzutreten, beschließt er, noch ein paar Minuten dranzuhängen. Er geht weiter die Straße hinunter, biegt um die nächste Ecke, geht eine weitere Straße entlang und biegt an der nächsten Ecke wiederum ab. Elf Stockwerke über ihm löst sich, vom Wind heftig attackiert, der Kopf eines an der Fassade eines Wohnhauses angebrachten kleinen Wasserspeiers langsam vom Rest seines Kalksteinkörpers. Nick macht einen Schritt und dann noch einen und tritt genau in dem Moment, als der Wasserspeierkopf endgültig abbricht, in die Flugbahn des herabstürzenden Gegenstands. So beginnt in leicht modifizierter Form die Flitcraft-Erzählung. Der Wasserspeier verfehlt Nicks Kopf um wenige Zentimeter, streift seinen rechten Arm, schlägt ihm die Aktentasche aus der Hand und zerschellt auf dem Bürgersteig in tausend Stücke.
    Der Schlag wirft Nick zu Boden. Er ist wie betäubt, orientierungslos, verängstigt. Zunächst hat er keine Ahnung, was ihm da widerfahren ist. Für den Bruchteil einer Sekunde Beunruhigung, als der Stein ihn am Ärmel berührte, ein winziger Schock, als ihm die Tasche aus der Hand flog, und dann das Krachen des auf dem Pflaster zerspringenden Wasserspeiers. Es dauert einige Zeit, ehe er den Ablauf der Ereignisse rekonstruieren kann, und als es ihm schließlich gelingt, rappelt er sich in dem Bewusstsein vom Boden hoch, dass er jetzt tot sein müsste. Der Stein hatte ihn töten sollen. Er hat seine Wohnung heute Abend nur verlassen, um in diesen Stein hineinzulaufen, und wenn er mit dem Leben davongekommen ist, kann dasnur bedeuten, dass ihm ein neues Leben geschenkt wurde – dass sein altes Leben beendet ist, dass jeder Augenblick seiner Vergangenheit jetzt jemand anderem gehört.
    Ein Taxi biegt um die Ecke und kommt ihm entgegen. Nick hebt die Hand. Das Taxi hält, und Nick steigt ein. Wohin?, fragt der Fahrer. Nick hat keine Ahnung, und daher sagt er das erste Wort, das ihm in den Kopf kommt. Zum Flughafen, sagt er. Welchem?, fragt der Fahrer. Kennedy, LaGuardia oder Newark? LaGuardia, sagt Nick, und los geht’s. Dort angekommen, begibt sich Nick zum Ticketschalter und fragt nach dem nächsten Flug. Wohin?, fragt der Mann hinterm Schalter. Egal, sagt Nick. Der Mann sieht im Flugplan nach. Kansas City, sagt er. Boarding in zehn Minuten. Gut, sagt Nick und reicht ihm seine Kreditkarte, geben Sie mir ein Ticket. Einfach oder Hin- und Rückflug?, fragt der Mann. Einfach, sagt Nick, und eine halbe Stunde später sitzt er im Flugzeug und fliegt durch die Nacht nach Kansas City.
    An der Stelle verließ ich ihn an jenem Vormittag – auf diesem verrückten Flug in eine ungewisse, unglaubliche Zukunft. Mir war nicht klar, wie lange ich daran gesessen hatte, aber ich spürte, dass mir allmählich die Puste ausging; also legte ich den Füller weg und stand auf. Insgesamt hatte ich acht Seiten in dem blauen Notizbuch beschrieben. Das hieß, ich musste mindestens zwei bis drei Stunden gearbeitet haben, aber die Zeit war so schnell vergangen, dass es mir nur wie wenige Minuten vorkam. Ich trat aus dem Zimmer und ging den Flur hinunter zur Küche. Zu meiner Überraschung stand Grace am Herd und machte sich eine Kanne Tee.
    «Hab gar nicht gemerkt, dass du zu Hause bist», sagte sie.
    «Bin schon seit einer Weile da», erklärte ich. «War in meinem Zimmer.»
    Grace machte ein erstauntes Gesicht. «Hast du mich nicht klopfen gehört?»
    «Nein, entschuldige. Muss ganz in meine Arbeit versunken gewesen sein.»
    «Als du nicht geantwortet hast, habe ich die Tür aufgemacht und hineingeschaut. Aber du warst nicht da.»
    «Natürlich war ich da. Ich habe am Schreibtisch gesessen.»
    «Ich habe dich jedenfalls nicht gesehen. Vielleicht warst du gerade woanders. Im Bad vielleicht.»
    «Ich kann mich nicht erinnern, im Bad gewesen zu sein. Soweit ich weiß, habe ich die ganze Zeit am Schreibtisch gesessen.»
    Grace zuckte die Schultern. «Wenn du meinst, Sidney», sagte sie. Sie war offenbar nicht in der Stimmung, einen Streit vom Zaun zu brechen.
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