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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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Ich habe es erst heute Morgen erhalten.
    Rosa wirkt erleichtert. Das ist gut, sagt sie. Es gibt Gerüchte, der Roman sei eine Fälschung, er stamme gar nicht von meiner Großmutter. Da ich mir selbst kein Urteil erlauben konnte, habe ich das Manuskript von einem Handschriftenexperten analysieren lassen. Sein Gutachten kam am Samstag; er sagt, es sei echt. Nur damit Sie Bescheid wissen.
Nacht des Orakels
wurde tatsächlich von Sylvia Maxwell geschrieben.
    Das klingt, als gefalle Ihnen das Buch, sagt Nick, und Rosa sagt ja, es habe sie sehr bewegt. Wenn es 1927 geschriebenwurde, fährt er fort, dann kam es nach
Das brennende Haus
und
Erlösung,
aber vor
Landschaft mit Bäumen
– es wäre demnach ihr dritter Roman. Da war sie noch nicht mal dreißig, stimmt’s?
    Achtundzwanzig, sagt Rosa. So alt, wie ich jetzt bin.
    Die Unterhaltung wird noch fünfzehn, zwanzig Minuten lang fortgesetzt. Nick hat an diesem Vormittag hundert Dinge zu erledigen, aber er bringt es nicht fertig, sie zum Gehen aufzufordern. Die junge Frau wirkt so offen und klar, so wenig jedweder Selbsttäuschung hingegeben, dass er sie noch ein Weilchen anschauen und den Eindruck ihrer Erscheinung ganz in sich aufnehmen will – und ihre Erscheinung ist schön, findet er, und zwar eben weil sie sich dessen nicht bewusst ist, weil sie ihrer Wirkung auf andere absolut keine Beachtung schenkt. Bedeutendes wird nicht besprochen. Rosa ist die Tochter von Sylvia Maxwells ältestem Sohn (einem Spross aus Maxwells zweiter Ehe mit dem Theaterregisseur Stuart Leightman), erfährt er, sie ist in Chicago geboren und aufgewachsen. Als Nick sie fragt, warum sie solchen Wert darauf gelegt hat, das Buch zuerst ihm zu schicken, sagt sie, sie kenne sich im Verlagsgeschäft überhaupt nicht aus, aber Alice Lazarre sei ihr von allen Gegenwartsautoren die liebste, und seit sie wisse, dass Nick ihr Lektor ist, stehe für sie fest, dass er genau der Richtige für das Buch ihrer Großmutter sei. Nick lächelt. Alice wird sich freuen, sagt er, und als Rosa wenige Minuten später aufsteht und sich zum Gehen anschickt, nimmt er ein paar Bücher aus einem Regal, alles Erstausgaben von Alice Lazarre, und schenkt sie ihr. Ich hoffe,
Nacht des Orakels
wird Sie nicht enttäuschen, sagt Rosa. Warum sollte es mich enttäuschen?, fragt Nick. Sylvia Maxwell war eineerstklassige Schriftstellerin. Na ja, sagt Rosa, das Buch hier ist anders als die anderen. In welcher Hinsicht?, fragt Nick. Schwer zu sagen, antwortet Rosa, in jeder Hinsicht. Sie werden es beim Lesen schon selber merken.
    Es waren natürlich noch andere Entscheidungen zu treffen, eine Menge wichtiger Einzelheiten mussten noch ersonnen und in die Szene eingearbeitet werden – erzäh lerisches Füllmaterial, das Authentizität suggerierte. Zum Beispiel: Seit wann lebt Rosa in New York? Was tut sie hier? Hat sie einen Job, und falls ja, ist die Arbeit ihr wichtig oder bloß ein Mittel, genug Geld zu verdienen, um die Miete bezahlen zu können? Und wie steht es mit ihrem Liebesleben? Ist sie verheiratet oder nicht, gebunden oder ungebunden, ist sie auf Männerjagd, oder wartet sie geduldig, dass ihr irgendwann der Richtige über den Weg läuft? Anfangs wollte ich eine Fotografin aus ihr machen, oder vielleicht eine Filmeditorin – etwas, was mit Bildern zu tun hatte, nicht mit Worten, also genau wie bei Grace. Auf jeden Fall unverheiratet, noch nie verheiratet, aber vielleicht mit jemandem zusammen oder, noch besser, erst vor kurzem von jemandem getrennt, nach einer langen, qualvollen Affäre. Einstweilen wollte ich mich mit diesen Fragen gar nicht beschäftigen, ebenso wenig mit ähnlichen Fragen, die Nicks Frau betrafen – Beruf, familiärer Hintergrund, musikalische und literarische Vorlieben und so weiter. Ich schrieb die Geschichte ja noch nicht wirklich, ich legte lediglich in groben Zügen die Handlung fest und konnte es mir nicht leisten, mich in die Details von Nebensächlichkeiten zu vertiefen. Das hätte mich zum Nachdenken gezwungen, aber ich wollte jetzt nur vorankommen und sehen, wohin die Bilder in meinem Kopf mich führen würden. Es ging mir nicht darumzu steuern; nicht einmal darum, Entscheidungen zu treffen. Meine Aufgabe an diesem Vormittag bestand einfach darin, dem zu folgen, was sich in meinem Inneren abspielte, und um das zu tun, musste ich den Federhalter nur ununterbrochen in Bewegung halten.
    Nick ist kein Filou, kein Weiberheld. Nie hat er seine Frau betrogen, und ihm ist auch jetzt nicht bewusst,
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