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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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    Auch ich hatte Grace per Zufall in einem Verlagsbüro kennen gelernt, was vielleicht erklärt, warum ich beschloss, Bowen gerade diesen Job zu geben. Das war im Januar 1979 gewesen, nicht lange nachdem ich meinen zweiten Roman beendet hatte. Mein erster Roman und ein früherer Erzählungsband waren von einem kleinen Verlag in San Francisco herausgebracht worden, aber jetzt war ich bei einem größeren, stärker kommerziell ausgerichteten Haus, Holst & McDermott in New York, untergekommen. Etwa zwei Wochen nach Vertragsunterzeichnung suchte ich meine Lektorin in ihrem Büro auf, und als wir im Verlauf unseres Gesprächs auf die Gestaltung des Buchumschlags zu sprechen kamen, nahm Betty Stolowitz das Telefon von ihrem Schreibtisch und meinte: «Ich finde, wir sollten Grace holen und sie nach ihrer Meinung fragen.» Wie sich herausstellte, arbeitete Grace bei Holst & McDermott als Designerin und hatte den Auftrag, den Schutzumschlag für
Selbstporträt mit imaginärem Bruder
zu entwerfen – so der Titel des kleinen Buchs, in dem es um meine Grillen und meine Tag- und Albträume ging.
    Betty und ich diskutierten noch drei, vier Minuten lang weiter, und dann betrat Grace Tebbetts den Raum. Sie blieb ungefähr eine Viertelstunde, und als sie aufstand und wieder in ihr Büro zurückkehrte, war ich in sie verliebt. Völlig abrupt, überzeu gend , unerwartet. Ich hatte von dergleichen in Romanen gelesen, aber immer angenommen, die Autoren übertrieben die Gewalt des ersten Blicks – dieses endlos debattierten Moments, in dem der Mann zum ersten Mal in die Augen seiner Geliebten sieht. Für einen geborenen Pessimisten wie mich war das eine absolut schockierende Erfahrung. Ich kam mir vor, als hätte man mich in die Welt der Troubadoure zurückgestoßen, als durchlebte ich plötzlich eine Stelle im ersten Kapitel von
La Vita Nova (…   als mir zum ersten Mal die herrliche Gebieterin meines Geistes erschien),
als bewohnte ich die faden Phrasen von tausend vergessenen Liebessonetten.
Ich brannte. Ich schmachtete. Ich darbte. Ich verstummte ganz und gar.
Und das alles passierte mir in der ödesten Umgebung, im harten Neonlicht eines amerikanischen Büros am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts – dem letzten Ort auf der Welt, an dem man damit rechnen würde, auf die Leidenschaft seines Lebens zu stoßen. Solche Ereignisse lassen sich nicht erklären, es gibt keinen objektiven Grund dafür, warum wir uns in den einen Menschen verlieben und in den anderen nicht. Grace war eine gut aussehende Frau, aber selbst in diesen ersten turbulenten Sekunden unserer ersten Begegnung, als ich ihr die Hand gab und sie sich auf einen Stuhl neben Bettys Schreibtisch setzte, vermochte ich zu sehen, dass sie keine übermäßige Schönheit war, keine dieser Kinogöttinnen, die einen mit dem Glanz ihrer Vollkommenheit überwältigen. Zweifellos war sie ansehnlich, beeindruckend, ein erfreulicher Anblick (wie auch immer man diese Ausdrücke verstehen mag), aber so heftig ich mich zu ihr hingezogen fühlte, war mir doch auch bewusst, dass es mehr als nur physische Anziehung war, dass der Traum, den ich jetzt zu träumen anfing, mehr war als nur eine momentane Anwandlung animalischer Begierde. Grace machte einen intelligenten Eindruck auf mich, doch als sie im Lauf des Gesprächs ihre Vorstellungen zu dem Buchumschlag entwickelte, stellte ich fest, dass sie kein sehr redegewandter Mensch war (sie zögerte häufig zwischen zwei Sätzen, beschränkte ihr Vokabular auf schlichte, sachliche Ausdrücke und schien kein Abstraktionstalent zu haben), und nichts von dem, was sie an diesem Nachmittag sagte, war in irgendeiner Weise brillant oder bemerkenswert. Abgesehen von einigen freundlichen Bemerkungen zu meinem Buch wies nichts in ihrem Verhalten darauf hin, dass sie auch nur das leiseste Interesse an mir hatte. Und dennoch war ich in einen Zustand höchster Qual geraten – ich
brannte, schmachtete
und
darbte
: ein Mann, der in die Falle der Liebe getappt war.
    Sie war einen Meter zweiundsiebzig groß und wog siebenundfünfzig Kilogramm. Schlanker Hals, lange Arme und lange Finger, helle Haut, kurzes, schmutzig blondes Haar. Ihre Frisur hatte, wie mir später auffiel, einige Ähnlichkeit mit der, die man von den Abbildungen des Titelhelden in
Der kleine Prinz
kennt – abgesägte Spitzen und Locken   –, und vielleicht verstärkte diese Assoziation die leicht androgyne Aura, die Grace umgab. Ebenso muss die männliche Kleidung, die sie an diesem
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