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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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Füller, drückte die Feder auf die oberste Linie der ersten Seite des blauen Notizbuchs und begann zu schreiben.
    Die Worte kamen schnell, wie von selbst, scheinbar ohne große Anstrengung. Das überraschte mich, aber solange ich meine Hand weiter von links nach rechts bewegte, war das nächste Wort immer schon da und wartete nur, mir aus der Feder zu fließen. Ich sah meinen Flitcraft als einen Mann namens Nick Bowen. Er ist Mitte dreißig, arbeitet als Lektor bei einem großen New Yorker Verlag und ist mit einer Frau namens Eva verheiratet. Dem Beispiel von Hammetts Urbild folgend, kann er in seinem Job nur erfolgreich sein, wird von seinen Kollegen bewundert, ist finanziell auf der sicheren Seite, glücklich verheiratet und so weiter. So jedenfalls erscheint es einem flüchtigen Beobachter, aber in meiner Version der Geschichte hat Bowen schon längere Zeit mit Problemen zu kämpfen. Die Arbeit langweilt ihn (obwohl er das nicht zugeben will), und nach fünf Jahren einer relativ stabilen und zufriedenen Beziehung mit Eva ist seine Ehe zum Stillstand gekommen (auch dieser Tatsache vermag er nicht ins Gesicht zu sehen). Statt sich mit seiner zunehmenden Unzufriedenheit zu beschäftigen, verbringt Nick seine Freizeit in einer Werkstatt an der Desbrosses Street in Tribeca, wo er sich mit der langwierigen Aufgabe befasst, den Motor eines kaputten Jaguar zu reparieren, den er im dritten Jahr seiner Ehe erworben hat. Er ist ein gefragter junger Lektor bei einem angesehenen New Yorker Verlagshaus, aber in Wahrheit zieht er es vor, mit den Hän den zu arbeiten.
    Die Geschichte beginnt damit, dass Bowen das Manuskript eines Romans auf den Schreibtisch bekommt. Ein kurzes Werk mit dem viel sagenden Titel
Nacht des Orakels,
angeblich verfasst von Sylvia Maxwell, einer beliebten Autorin der zwanziger und dreißiger Jahre, die knapp zwei Jahrzehnte zuvor gestorben war. Dem Agenten zufolge, der es eingeschickt hatte, war dieses verschollene Buch 1927 entstanden, in dem Jahr, in dem Maxwell mit einem Engländer namens Jeremy Scott, einem unbedeutenden Künstler, der später als Dekorateur für britische und amerikanische Filmproduktionen gearbeitet hatte, nach Frankreich durchgebrannt war. Als die Affäre nach achtzehn Monaten vorbei war und Sylvia Maxwell nach New York zurückkehrte, ließ sie den Roman bei Scott. Er behielt ihn bis ans Ende seines Lebens, und als er, wenige Monate bevor meine Geschichte beginnt, mit siebenundachtzig Jahren starb, fand sich in seinem Testament eine Klausel, die das Manuskript Maxwells Enkelin vermachte, einer jun gen Amerikanerin namens Rosa Leightman. Durch sie war das Buch an den Agenten gelangt – mit der klaren Anweisung, es zunächst an Nick Bowen zu schicken; niemand sonst sollte es vor ihm zu Gesicht bekommen.
    Das Päckchen gelangt an einem Freitagnachmittag in Nicks Büro, wenige Minuten nachdem er sich ins Wochenende verabschiedet hat. Als er am Montagmorgen zurückkommt, liegt das Buch auf seinem Schreibtisch. Nick ist ein Bewunderer der anderen Romane von Sylvia Max well und will daher gleich mit diesem anfangen. Aber kaum hat er die erste Seite aufgeschlagen, klingelt das Telefon. Seine Assistentin teilt ihm mit, Rosa Leightman sei am Empfang und frage, ob er ein paar Minuten Zeit für sie habe. Schick sie rein, sagt Nick, und ehe er auch nurdie ersten Sätze des Buchs zu Ende lesen kann
(Der Krieg war fast vorbei, aber das wussten wir nicht. Wir waren zu klein, um irgendetwas zu wissen, und da der Krieg überall war, konnten wir   …)
, tritt Sylvia Maxwells Enkelin in sein Büro. Sie ist überaus schlicht gekleidet, so gut wie nicht geschminkt und trägt ihr Haar in einer altmodischen Kurzfrisur, und doch ist ihr Gesicht so reizend, findet Nick, so schmerzlich jung und ungeschützt, ein solches (denkt er plötzlich) Inbild von Hoffnung und entfesselter menschlicher Energie, dass es ihm den Atem verschlägt. Genau so ist es mir ergangen, als ich Grace das erste Mal sah – dieser lähmen de Schlag ins Gehirn, der mir den Atem raubte   –, weshalb es mir nicht schwer fiel, diese Gefühle auf Nick Bowen zu übertragen und sie mir im Kontext dieser anderen Geschichte auszumalen. Um die Sache noch einfacher zu machen, beschloss ich, Rosa Leightman mit Graces Körper zu versehen – bis hin zu den kleinsten, individuellsten Eigenarten, einschließlich der Kindheitsnarbe auf ihrer Kniescheibe, dem leicht schiefen linken Schneidezahn und dem Schönheitsfleck auf ihrer rechten Wange.
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