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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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in Princeton studiert, und obwohl die beiden dann auf ganz verschiedenen Gebieten arbeiteten (Graces Vater war Bezirksrichter in Charlottesville, Virginia), hatten sie sich nie aus den Augen verloren. Ich lernte ihn daher als Freund der Familie kennen und nicht als den bekannten Schriftsteller, den ich seit der Highschool gelesen hatte – und den ich noch immer für einen unserer besten Autoren hielt.
    Zwischen 1952 und 1975 hatte er sechs literarische Werke veröffentlicht, nun aber seit über sieben Jahren nichts mehr. John war jedoch nie sehr schnell gewesen, und dass die Pause jetzt etwas länger als gewöhnlich geraten war, bedeutete keineswegs, dass er nicht arbeitete. Ich hatte seit der Entlassung aus dem Krankenhaus schon einige Nachmittage mit ihm verbracht, und während unserer Gespräche über meinen Gesundheitszustand (der ihm unentwegt große Sorgen machte), seinen zwanzigjährigen Sohn Jacob (der ihm in letzter Zeit viel Kummer bereitete) und die Bredouille der Mets (eins unserer Lieblingsthemen) hatte er genug Hinweise über seine gegenwärtigen Aktivitäten eingestreut, aus denen ich schließen konnte, dass er intensiv mit etwas beschäftigt war und sehr viel Zeit auf ein Projekt verwandte, das schon weit fortgeschritten sein musste – und vielleicht bald abgeschlossen sein würde.
    Er meinte die Flitcraft-Episode im siebten Kapitel des
Malteser Falken,
die Szene, in der Sam Spade Brigid O’Shaughnessy das eigenartige Gleichnis von dem Mann erzählt, der aus seinem Leben aussteigt und verschwindet. Flitcraft ist ein typischer Durchschnittsmensch   – Ehemann, Vater, erfolgreicher Geschäftsmann, jemand, der sich über nichts zu beklagen hat. Als er eines Tageszum Mittagessen geht, stürzt aus dem zehnten Stock einer Baustelle ein Balken auf die Straße und landet um ein Haar auf seinem Kopf. Nur wenige Zentimeter weiter, und Flitcraft wäre zerschmettert worden, aber der Balken verfehlt ihn, und abgesehen von einem Splitter, der vom Bürgersteig aufspringt und ihn im Gesicht trifft, kommt er unverletzt davon. Dennoch lässt ihn der Vorfall nicht los, der Gedanke, dem Tod nur knapp entronnen zu sein, bringt ihn aus der Fassung. Hammett schreibt: «Es kam ihm vor, als habe jemand den Deckel vom Leben gehoben und ihn einen Blick in die Mechanik werfen lassen.» Flitcraft erkennt, dass die Welt nicht so vernünftig und wohl geordnet ist, wie er gedacht hat, dass er von Anfang an alles falsch verstanden und bisher noch überhaupt nichts begriffen hat. Die Welt wird vom Zufall regiert. Willkür verfolgt uns an jedem Tag unseres Lebens, undjederzeit kann uns dieses Leben genommen werden – ohne jeden Grund. Als Flitcraft seine Mahlzeit beendet hat, gelangt er zu dem Schluss, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als sich dieser destruktiven Macht zu unterwerfen und sein Leben durch irgendeinen sinnlosen, vollkommen willkürlichen Akt der Selbstverneinung zu zertrüm mern . Er will gewissermaßen Feuer mit Feuer bekämp fen ; er denkt gar nicht daran, nach Hause zu gehen oder sich von seiner Familie zu verabschieden, er denkt nicht einmal daran, sich auf der Bank noch etwas Geld zu holen, sondern steht einfach auf, fährt in eine andere Stadt und fängt sein Leben noch einmal von vorne an.
    In den zwei Wochen, seit John und ich über diese Stelle gesprochen hatten, war mir nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass ich den Wunsch haben könnte, mich der Herausforderung zu stellen und diese Geschichte weiter auszuarbeiten. Auch ich fand, sie sei ein guter Ausgangspunkt – gut, weil jeder von uns sich schon einmal vorgestellt hat, aus seinem Leben auszusteigen; gut, weil jeder von uns schon einmal gewünscht hat, jemand anderer zu sein   –, aber das bedeutete nicht, dass ich irgendein Interesse daran hatte, der Sache nachzugehen. Als ich jedoch an diesem Morgen zum ersten Mal seit nahezu neun Monaten wieder an meinem Schreibtisch saß, mein frisch erstandenes Notizbuch anstarrte und krampfhaft einen ersten Satz zu finden versuchte, der mich nicht in Verlegenheit bringen oder mir den Mut nehmen wür de , beschloss ich, es doch einmal mit der alten Flitcraft-Episode zu versuchen. Das war nicht mehr als ein Vorwand, ein Tasten nach einem möglichen Einstieg. Wenn ich imstande wäre, ein paar halbwegs interessante Ideen zu notieren, könnte ich immerhin von einem Anfangsprechen, auch wenn ich nach zwanzig Minuten aufhören und niemals etwas daraus machen würde. Also zog ich die Kappe von meinem
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