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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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hätte ich meinen Spaziergang vielleicht einfach fortgesetzt, aber ich hatte wenig Lust, das Ding mit mir durch die Gegend zu schleppen, und da das Wetter inzwischen ziemlich scheußlich geworden war (das feine Nieseln hatte sich zu einem Dauerregen entwickelt), spannte ich meinen Schirm auf und ging nach Hause.
    Es war ein Samstag, und meine Frau hatte, als ich die Wohnung verließ, noch im Bett gelegen. Grace hatte einen Vollzeitjob und nur am Wochenende die Möglichkeit, einmal auszuschlafen, sich den Luxus zu gönnen, ohne Wecker aufzuwachen. Um sie nicht zu stören, war ich so leise wie möglich hinausgeschlichen und hatte ihr einen Zettel auf den Küchentisch gelegt. Jetzt sah ich, dass sie ein paar Zeilen hinzugefügt hatte.
Sidney: Hoffe, du hattest
einen schönen Spaziergang. Ich gehe Besorgungen machen. Bin bald zurück. Wir sehen uns auf der Ranch. Love, G.
    Ich ging in mein Arbeitszimmer am Ende des Flurs und packte meine neuen Sachen aus. Das Zimmer war winzig – der Platz reichte gerade für einen Schreibtisch, einen Stuhl und ein kleines Bücherregal mit vier schmalen Brettern   –, genügte mir aber für meine Bedürfnisse, denn auf dem Stuhl sitzen und Worte zu Papier bringen war alles, was ich dort wollte. Ich war seit der Entlassung aus dem Krankenhaus schon einige Male in dem Zimmer gewesen, aber bis zu diesem Samstagmorgen im September – den ich lieber den
fraglichen Morgen
nenne – hatte ich, glaube ich, noch nicht ein einziges Mal auf dem Stuhl Platz genommen. Als ich jetzt meinen erbärmlichen, entkräfteten Hintern auf den harten Holzsitz senkte, kam ich mir vor wie jemand, der von einer langen und beschwerlichen Reise nach Hause gekommen ist, ein vom Glück verlassener Reisender, zurückgekehrt, um seinen rechtmäßigen Platz in der Welt wieder einzufordern. Es war schön, wieder da zu sein, schön, wieder da sein zu
wollen,
und in dem Glücksgefühl, das mich überkam, als ich wieder an meinem alten Schreibtisch saß, beschloss ich, das Ereignis durch einen Eintrag in das blaue Notizbuch zu feiern.
    Ich setzte eine frische Tintenpatrone in meinen Füll federhalter , öffnete das Notizbuch auf der ersten Seite und starrte die oberste Zeile an. Ich hatte keine Ahnung, wie ich anfangen sollte. Zweck der Übung war nicht so sehr, etwas Bestimmtes zu schreiben, sondern mir selbst zu beweisen, dass ich noch zum Schreiben imstande war – daher spielte es keine Rolle, was ich schrieb, solange ich nur überhaupt etwas zu Papier brachte. Alles wäre mir recht gewesen, ein Satz so richtig wie der andere, aber ich wollte das neue Notizbuch ja auch nicht mit irgendetwas Dummem einweihen, und so wartete ich noch und sah mir die kleinen Quadrate auf dem Papier an, die Reihen mattblauer Linien, die als Gitter auf der weißen Fläche lagen und sie in winzige identische Kästchen unterteilten, und als ich meine Gedanken über diese angedeuteten Einfriedungen hinschweifen ließ, musste ich plötz lich an ein Gespräch denken, das ich zwei Wochen zuvor mit meinem Freund John Trause geführt hatte. Wenn wir zusammen waren, sprachen wir beide nur selten über Bü cher , aber an diesem Tag hatte John erwähnt, er habe einige Romanautoren wieder gelesen, die er in seiner Jugend bewundert habe – neugierig, ob ihre Werke ihm auch heute noch etwas sagten oder nicht, neugierig, ob sein Urteil als Zwanzigjähriger dreißig Jahre später noch genauso ausfallen würde. Er ging zehn Autoren durch, zwanzig Autoren, streifte alles von Faulkner und Fitzgerald bis zu Dostojewski und Flaubert, aber was mir von seinen Ausführungen am lebhaftesten im Gedächtnisblieb – und woran ich jetzt denken musste, als ich vor dem blauen Notizbuch an meinem Schreibtisch saß   –, war ein kleiner Exkurs über eine Anekdote in einem Buch von Dashiell Hammett. «Da steckt ein ganzer Roman drin», hatte John gesagt. «Ich bin zu alt, um selbst darüber nachdenken zu wollen, aber ein junger Hüpfer wie du könnte da was Großes und Gutes draus machen. Es ist ein phantastischer Ausgangspunkt. Man braucht nur noch die passende Geschichte dazu.» 2
    2
    John war sechsundfünfzig. Zwar nicht mehr jung, aber auch noch nicht so alt, dass er sich selbst als alt betrachtete, zumal er sich sehr gut hielt und immer noch wie Mitte bis Ende vierzig aussah. Ich kannte ihn seit drei Jahren, und unsere Freundschaft ging direkt auf meine Ehe mit Grace zurück. Ihr Vater hatte in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit John zusammen
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