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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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warum, aber ich empfand diese Abmessungen als äußerst befriedigend, und als ich das Notizbuch zum ersten Mal in der Hand hielt, spür te ich so etwas wie physisches Behagen, eine jähe Woge unbegreiflichen Wohlbefindens. Es waren nur noch vier von diesen Notizbüchern übrig, jedes in einer anderen Farbe: schwarz, rot, braun und blau. Ich entschied mich für das blaue, das zufällig gerade oben lag.
    Fünf Minuten später hatte ich die anderen Dinge, derentwegen ich gekommen war, zusammengesucht, trug sie nach vorne und legte sie auf den Ladentisch. Der Mann schenkte mir wiederum ein höfliches Lächeln und begann die Preise der verschiedenen Artikel in die Kasse einzutippen. Als er jedoch zu dem blauen Notizbuch kam, hörte er kurz auf, hielt das Buch hoch und strich mit den Fingerspitzen leicht über den Einband. Eine Geste der Wertschätzung, fast schon eine Liebkosung.
    «Schönes Buch», sagte er mit starkem Akzent. «Aber nicht mehr. Nicht mehr Portugal. Sehr traurige Geschichte.»
    Ich konnte ihm nicht folgen, doch statt ihn in Verlegenheit zu bringen und ihn zu bitten, es zu wiederholen, murmelte ich etwas von der Eleganz und Schlichtheit des Notizbuchs und wechselte dann das Thema. «Haben Sie das Geschäft schon lange?», fragte ich. «Es sieht alles so neu und sauber aus.»
    «Ein Monat», sagte er. «Große Eröffnung am zehnten August.»
    Als er das verkündete, schien er sich ein wenig gerader aufzurichten, sich mit jungenhaftem, militärischem Stolz in die Brust zu werfen, aber als ich ihn fragte, wie die Geschäfte denn so liefen, legte er das blaue Notizbuch sachte auf den Ladentisch und schüttelte den Kopf. «Sehr schlecht. Viel Enttäuschung.» Als ich ihm in die Augen sah, begriff ich, dass er mehrere Jahre älter war, als ich zuerst gedacht hatte – er war mindestens fünfunddreißig, vielleicht schon vierzig. Ich machte eine lahme Bemerkung von wegen, er solle nur durchhalten und den Dingen die Chance geben, sich zu entwickeln, aber er schüt telte nur wieder den Kopf und lächelte. «Immer mein Traum, Laden besitzen», sagte er. «Laden wie dieser mit Schreibzeug und Papier, mein großer amerikanischer Traum. Geschäft für alle Leute, stimmt’s?»
    «Stimmt», sagte ich, ohne aber recht zu wissen, wovon er redete.
    «Alle machen Wörter», fuhr er fort. «Alle schreiben Dinge auf. Kinder in Schule benutzen meine Bücher. Lehrer schreiben Noten in meine Bücher. Liebesbriefe werden in Umschlägen von mir verschickt. Hauptbücher für Buchhalter, Notizblöcke für Einkaufslisten, Terminkalender für Wochenplan. Alles hier wichtig für Leben, und das macht mich glücklich, gibt meinem Leben Ehre.»
    Der Mann hielt seine kleine Rede mit so feierlichem Ernst, mit solcher Entschlossenheit und Hingabe – ich muss gestehen, ich war richtig bewegt. Was ist das für ein Schreibwarenhändler, fragte ich mich, der seinen Kunden die Metaphysik des Papiers erklärt und sich selbst eine wesentliche Rolle in den unzähligen Angelegenheiten der Menschheit zumisst? Das hatte schon etwas Komisches, glaube ich, aber während ich ihm zuhörte, war mir nicht nach Lachen zumute.
    «Gut formuliert», sagte ich. «Ich bin ganz und gar Ihrer Meinung.»
    Das Kompliment schien seine Laune ein wenig zu heben. Mit einem kleinen Lächeln und einem Kopfnicken tippte er wieder auf die Tasten seiner Kasse ein. «Viele Schriftsteller hier in Brooklyn», sagte er. «Ganze Gegend voll von ihnen. Gut für Geschäft vielleicht.»
    «Vielleicht», sagte ich. «Das Dumme mit Schriftstellern ist nur, dass die meisten kein Geld haben.»
    «Ah», sagte er, blickte von der Kasse auf und zeigte ein breites Lächeln, das seine schiefen Zähne sehen ließ. «Sie müssen selbst Schriftsteller sein.»
    «Verraten Sie das ja keinem», antwortete ich, weiter um einen munteren Tonfall bemüht. «Das soll ein Geheimnis bleiben.»
    Das war keine sehr komische Bemerkung, aber der Mann schien sie ausgesprochen amüsant zu finden und kriegte sich vor Lachen kaum noch ein. Sein Lachen hatte einen seltsamen, abgehackten Rhythmus – ein Mittelding zwischen Singen und Sprechen – und kam in einer Reihe kurzer mechanischer Triller aus seiner Kehle:
Ha ha ha. Ha ha ha. Ha ha ha.
«Verrate keinem», sagte er, als der Ausbruch sich gelegt hatte. «Strenggeheim. Nur unter uns. Meine Lippen versiegelt.
Ha ha ha

    Er wandte sich wieder der Kasse zu, und als er meine Sachen in einer großen weißen Einkaufstüte verstaut hatte, war seine Miene wieder
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