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Die Unzertrennlichen

Die Unzertrennlichen

Titel: Die Unzertrennlichen
Autoren: Lilian Faschinger
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1
    Dass ich am Begräbnis meines Vaters teilnahm, war der erste Fehler. Aber wie hätte ich ahnen sollen, was für Folgen sich daraus ergeben würden?
    Meine Großmutter hatte mich in Wien angerufen und mir mitgeteilt, dass er gestorben war.
    »Es musste so kommen«, sagte sie. »Wir haben ihn heute früh in der Mühle gefunden. Der Forstgehilfe und sein Bruder, die weiter oben am Bach wohnen, konnten nicht schlafen, weil die ganze Nacht diese fürchterliche Musik, die dein Vater so schätzt –«
    Eine Pause entstand. Ich hörte ein kurzes Wimmern.
    »– geschätzt hat«, fuhr sie fort. »Jedenfalls, diese fürchterliche Musik dröhnte die ganze Nacht durch den Graben. Natürlich nicht zum ersten Mal, du weißt, wie rücksichtslos dein Vater sein kann.«
    Noch eine Pause. Ein leises Ächzen.
    »Konnte«, sagte sie dann. Ihre Stimme zitterte. »Nicht auszuhalten, hat der Forstgehilfe gesagt. Also ist er gegen fünf Uhr aufgestanden und zur Mühle gegangen. Im Morgengrauen. Auch nicht zum ersten Mal, soviel ich weiß. Die Eingangstür stand weit offen. Caspar lag am Fuß der Treppe, zusammengekrümmt wie ein Embryo. Wie ein Schlafender. Ganz friedlich. Ich habe sofort gesehen, dass er tot ist, sagte der Forstgehilfe. Er hat zuerst den CD -Player ausgeschaltet, um die fürchterliche Musik nicht mehr hören zu müssen, und dann den Arzt verständigt. Genickbruch. Eine Katastrophe.«
    Eine dritte Pause. Etwas raschelte.
    »Ich lese dir vor, was auf dem Totenschein steht.«
    »Das brauchst du nicht«, sagte ich. »Fraktur des zweiten Halswirbels, Riss der Bänder des Dens axis, Durchtrennung der Medulla oblongata, vergleichbar mit einer Dekapitation.«
    »Genau so steht es hier«, sagte meine Großmutter erstaunt. »Wortwörtlich.« Sie fasste sich. »Na ja, schließlich hast du Medizin studiert. Nur das mit der Dekapitation hat er nicht eingetragen. Was ist das?«
    »Eine Enthauptung«, sagte ich.
    »Enthauptung. Schrecklich«, sagte sie. »Er hätte es eintragen sollen. Eine Tragödie. Erst Mitte fünfzig, dein Vater, ein junger Mensch. Aber es hat niemanden erstaunt. Alle haben es kommen sehen. Es war nur eine Frage der Zeit. Natürlich hatte er Alkohol im Blut.«
    »Wie viel?«, fragte ich.
    »Zwei Komma zwei Promille.« Sie seufzte. »Eine schwere Prüfung des Schicksals, ein solcher Sohn. Übermorgen ist das Begräbnis. Das Dorf erwartet, dass du kommst.«
    »Was soll das heißen, du hast keine Lust, zur Beerdigung zu fahren?«, fragte Emma und setzte sich auf. Emma war die Frau, mit der ich seit ein paar Wochen zusammen war. »Er ist dein Vater, natürlich fährst du! Ich verstehe überhaupt nicht, wie du dich derart ungerührt über seinen Tod äußern kannst.«
    Wir lagen im Bett. Sie streckte sich wieder aus und zog meinen Kopf sacht an ihr rechtes Schlüsselbein. »Richtiggehend gefühllos. Erschreckend. Du bist doch sonst nicht so.«
    Emma hatte keine Ahnung. Sie leitete eine kleine Privatdetektei, es war ihr Beruf aufzudecken, was die Menschen verbargen, aber was meine Biografie anging, wusste sie gar nichts. Wir kannten uns erst seit kurzem, ich hatte es bisher nicht für nötig gehalten, ihr von meiner Vergangenheit, meiner Herkunft, meiner Familie zu erzählen. Ihr war nur bekannt, dass ich in der Südsteiermark aufgewachsen war, nahe der Grenze zu Slowenien. Sie war einige Jahre älter als ich.
    »Ich habe meinen Vater während der letzten Jahre nur selten gesehen«, sagte ich und küsste sie auf das Brustbein. »Er war schwer auszuhalten.«
    »Das ist meiner auch«, sagte Emma.
    Was stimmte. Emmas Vater war weit über achtzig, erging sich in Phantasien über seine Zeit als Soldat der deutschen Kriegsmarine und baute maßstabgerecht U-Boote aus dem Zweiten Weltkrieg nach. Er war nicht nur schwer zu ertragen, er war verrückt. Wahrscheinlich sind die meisten Väter verrückt. In Österreich und anderswo.
    Ich fuhr in den Sausal, zum Begräbnis. Die Kirche mit dem Friedhof lag, umgeben von Weingärten, auf einer steilen Anhöhe. Es war Mitte August, ich hatte allein sein wollen und war zwischen den Rebzeilen hinaufgestiegen. Mir war heiß, ich war zu warm angezogen, aber außer einer schwarzen Hose mit dazugehöriger Jacke, beides aus leichtem Wollstoff, war kein Kleidungsstück, das ich besaß, für eine Beerdigung geeignet. Ich stand vor der kleinen Kapelle außerhalb der Friedhofsmauer, in der mein Vater aufgebahrt war, und blickte über die Hügel. Eine weiche Linie folgte auf die andere, hie und da
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