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Nacht des Orakels

Nacht des Orakels

Titel: Nacht des Orakels
Autoren: Paul Auster
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dass er es auf Sylvia Maxwells Enkelin abgesehen haben könnte. Er fühlt sich zu ihr hingezogen, keine Frage, das Schillernde und Einfache ihres Wesens hat es ihm angetan, und kaum hat sie sein Büro verlassen, schießt ihm der ungebetene Gedanke durch den Kopf – ein wahrhaftiger Blitz der Begierde   –, dass er alles tun würde, um mit dieser Frau ins Bett zu gehen, dass er wahrscheinlich sogar seine Ehe dafür opfern würde. Männer denken so etwas zwanzigmal am Tag, und nur weil jemand ein momentanes Aufflackern von Erregung spürt, muss er noch lange nicht die Absicht haben, diesem Impuls nachzugeben; dennoch, Nick hat diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da wird er von Schuldgefühlen und Ekel vor sich selbst geschüttelt. Um sein Gewissen zu beruhigen, ruft er seine Frau auf ihrer Arbeitsstelle an (Anwaltskanzlei, Maklerbüro, Krankenhaus – muss noch geklärt werden) und teilt ihr mit, er wolle sie am Abend zum Essen ausführen und werde einen Tisch in ihrem Lieblingsrestaurant reservieren.
    Sie treffen sich um acht. Beim Aperitif und den Vorspeisen läuft es noch ganz gut, doch als sie dann auf irgendeine unbedeutende häusliche Angelegenheit zu sprechen kommen (ein kaputter Stuhl, das bevorstehende Eintreffen eines Vetters von Eva in New York, irgendetwas Nebensächliches), geraten sie ziemlich schnell inStreit, nicht sehr heftig vielleicht, aber der gereizte Tonfall genügt schon, die Stimmung zu zerstören. Nick entschuldigt sich, Eva akzeptiert; Eva entschuldigt sich, Nick akzeptiert; aber die Luft ist raus aus dem Gespräch, und die eben noch vorhandene Harmonie will sich nicht wieder einstellen. Als der Hauptgang serviert wird, sitzen sie beide nur noch schweigend da. Das Restaurant ist brechend voll, entsprechend lebhaft geht es zu, und als Nick geistesabwesend den Blick umherschweifen lässt, sieht er plötzlich Rosa Leightman, die zusammen mit fünf oder sechs anderen an einem Ecktisch sitzt. Eva fällt auf, dass er in diese Richtung blickt, und fragt, ob er einen Bekannten entdeckt hat. Das Mädchen da, sagt Nick. Sie war heute Morgen in meinem Büro. Er erzählt ihr ein wenig von Rosa, erwähnt den Roman ihrer Groß mutter , Sylvia Maxwell, und versucht dann das Thema zu wechseln, aber Eva hat sich inzwischen umgedreht und sieht zu Rosas Tisch hinüber. Sie ist sehr schön, sagt Nick, findest du nicht auch? Nicht schlecht, antwortet Eva. Aber eine komische Frisur, Nicky, und furchtbar angezogen. Das spielt keine Rolle, sagt Nick. Sie ist lebendig – lebendiger als irgendwer, den ich seit Monaten gesehen habe. Frauen wie sie können einem Mann den Kopf verdrehen.
    Es ist schlimm, wenn ein Mann so etwas zu seiner Frau sagt, besonders wenn die Frau ohnehin das Gefühl hat, ihr Mann habe sich innerlich von ihr entfernt. Tja, sagt Eva abwehrend, so ein Pech, dass du mich am Hals hast. Soll ich rübergehen und sie fragen, ob sie sich zu uns setzen will? Ich habe noch nie einen Mann gesehen, dem der Kopf verdreht wurde. Vielleicht lerne ich ja was dazu.
    Nick begreift die gedankenlose Grausamkeit seinerBemerkung und versucht den Schaden wieder gutzumachen. Ich habe nicht von mir gesprochen, sagt er. Ich habe einfach einen Mann gemeint – irgendeinen Mann. Den Mann an sich.
    Nach dem Essen gehen Nick und Eva in ihre Wohnung im West Village. Eine schmucke, gut ausgestattete Maisonette in der Barrow Street – genau genommen John Trauses Wohnung, die ich als stumme Verbeugung vor dem Mann, der mich auf die Idee gebracht hat, für meine Flitcraft’sche Erzählung requiriert habe. Nick muss noch einen Brief schreiben, Rechnungen bezahlen, und als Eva zu Bett geht, setzt er sich an den Esszimmertisch, um diese kleinen Aufgaben zu erledigen. Er braucht eine Dreiviertelstunde, doch obwohl es allmählich spät wird, ist er noch zu unruhig, um schon schlafen zu gehen. Er steckt den Kopf zum Schlafzimmer hinein, sieht, dass Eva noch wach ist, und sagt ihr, er gehe jetzt die Briefe wegbringen. Nur mal eben zum Briefkasten an der Ecke, sagt er. Bin in fünf Minuten zurück.
    Und dann geschieht es. Bowen nimmt seine Aktentasche (in der noch das Manuskript von
Nacht des Orakels
liegt), wirft die Briefe hinein und zieht los. Der Frühling hat begonnen, ein steifer Wind weht durch die Stadt, rüt telt an den Straßenschildern und wirbelt Papierfetzen und Müll durch die Luft. Nick, der immer noch über seine verstörende Begegnung mit Rosa am Morgen und den doppelt verstörenden Zufall nachgrübelt, der sie am
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