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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume
Autoren: A Michaelis
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nicht gerettet werden«, schniefte sie. »Ich wollte da drinnen … sterben … ich …«
    Hendrik gab ihr ein Taschentuch, mit dem sie den Dreck noch etwas gleichmäßiger in ihrem Gesicht verteilte.
    Aber das war es nicht, was Frederic ansah. Er sah Hendriks Hemd an, in dem ein breiter Riss klaffte; vielleicht eine Spur von Josephines bissigen Fingern. Frederic streckte die Hand aus und zog den Stoff noch ein wenig weiter auseinander. Hendrik runzelte die Stirn. »Was tust du da?«
    Frederic antwortete nicht. Er starrte die Haut unter Hendriks Hemd an. Unter dem Staub und dem Dreck war eine Wunde zu sehen, die sich quer über Hendriks linke Brust zog. Sie war bedeckt mit einer dicken, dunklen Schicht Schorf. Sie hatte begonnen zuzuheilen.
    Frederic hatte gedacht, Hendrik bräuchte Lisa, damit die Wunde sich schloss. Er hatte gedacht, Hendrik bräuchte eine neue Frau. Er hatte sich getäuscht.
    Es war Josephine gewesen. Hendrik hatte Josephine das Leben gerettet. Er hatte irgendjemandem das Leben retten müssen.
    Frederic lächelte Josephine an, und sie lächelte zurück. Ihr Lächeln war nicht schön. Er mochte sie noch immer nicht leiden. Nun, vielleicht konnte man ihr beibringen, nett zu sein. Auch wenn es sicher mühsam wäre.
    »Gehen wir nach Hause«, sagte er zu Hendrik.
    Hendrik nickte.
    »Ich fürchte, du musst mir eine Menge Dinge erklären.«
    »Das werde ich«, sagte Frederic. »Oh ja. Das werde ich. Vielleicht wird es lange dauern. Vielleicht müssen wir den ganzen Nachmittag reden und die ganze Nacht.«
    »Ich hätte nichts dagegen, die ganze Nacht zu reden«, sagte Hendrik.
    Doch sie redeten nicht die ganze Nacht.
    Um acht Uhr klingelte das Telefon. Hendrik hob ab. »Änna!«, verkündete er eine Minute später, den Hörer noch in der Hand. »Sie sagt, sie hätten die Augen geöffnet«, verkündete er. »Hat Änna junge Katzen oder so was zu Hause?«
    »Nein«, sagte Frederic. »Nur ihre Eltern.«
    Hendrik starrte ihn an, perplex.
    »Und sie hat gesagt, ich soll dir ausrichten, du hättest Stacheln. Und dass deshalb Bruhns mit der Maschine nicht an dich herankonnte. Weil die Stacheln im Weg waren. Sie meint, du siehst sie wohl selbst nicht. Es seien allerdings schon weniger geworden.«
    »Stacheln?« Jetzt sah Frederic perplex aus. Es ergab einen Sinn. Es ergab eine unheimliche Menge Sinn. Er strich über seine Stirn, und nun war ihm, als könne er die Stacheln spüren.
    »Gib mir mal den Hörer«, sagte Frederic.
    Hendrik schüttelte den Kopf. »Sie hat aufgelegt.«
    »Aufgelegt?«
    Plötzlich wurde es Frederic heiß und kalt gleichzeitig. War es das gewesen? Jetzt, wo sie die Träume befreit hatten, hatte er Änna verloren? Hatten sie sich gegenseitig nur gebraucht, um stark genug zu sein für das Dunkle, Unheimliche, Unerklärliche? Aber es gab noch so viel Dunkles, Unerklärliches in der Welt. Wie sollte er den Rest davon ohne Änna hinter sich bringen?
    Aus der Wohnung unter ihnen drang Musik.
    »Das sind Lisa und Herr Kahlhorst«, sagte Hendrik und lächelte. »Vorhin, als ich den Müll rausgebracht habe, habe ich sie gesehen. Sie tanzen irgendeinen Tanz miteinander, den ich noch nie gesehen habe. Ich glaube, sie haben ihn sich selbst ausgedacht. Sie wollten wissen, ob wir nicht Lust haben mitzumachen. Haben wir Lust?«
    »Hm«, sagte Frederic nachdenklich. »Vielleicht, ja. Wie heißt Kahlhorst eigentlich mit Vornamen? Hast du das in irgendeinem Schulbrief mal gelesen?«
    Hendrik schüttelte den Kopf. »Da war nie ein Vorname, glaube ich.«
    Frederic seufzte. »Ich fürchte, er hat ihn aufgegessen«, sagte er. »Lass uns hinuntergehen.«
    Bei Lisa standen eine Menge Kerzen in nicht für Kerzen geeigneten Dingen wie Flaschen, Joghurtbechern und Einmachgläsern. Es sah nach einer wirklichen Feier aus, und dafür war es nach all den Verwirrungen vermutlich auch Zeit.
    Es gab Wein und Bier und Johanniskrauttee. Kahlhorst hatte eine große Buttercremetorte mitgebracht, und Frederic musste an den Traum vom Geburtstag denken und sagte ganz leise: »Herzlichen Glückwunsch.«
    Dann setzte er sich ins offene Fenster, hörte dem Nachtwind von draußen und der Musik von drinnen zu, wo selbst Hendrik ausgedachte Tänze mittanzte, und atmete die Dunkelheit tief ein und aus.
    Es hätte recht lustig sein können, dachte Frederic, im Fenster zu sitzen und den Tänzern zuzusehen. Und es hätte wunderbar und erleichternd sein können, alles zu vergessen, was geschehen war, und einfach nur aufzuatmen. Doch
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