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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume
Autoren: A Michaelis
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die Gestalt am Rande des Schachts: Denn dort oben, wo es Tag war und nicht Nacht, wo eine wirkliche gelbe Sonne schien und kein totenbleicher Mond, stand ein alter Mann in einer abgewetzten Weste. Er war gerade dabei, das Ende der Strickleiter im Boden zu verankern.
    »Ich hatte so einen Verdacht, was geschehen ist!«, rief der Traumwächter. »Die Albträume waren noch nie so still! Da bin ich nachsehen gekommen.«
    »Aber ich dachte, Sie tun nichts, was Bruhns nicht erlaubt?«, rief Frederic hinauf. »Und dies hier wird er ganz sicher nicht erlauben! Er kommt, bald, um die Fabrik zu sprengen. Obwohl Sie mir das nicht glauben, fürchte ich.«
    »Ich habe meine Meinung geändert!«, rief der Traumwächter hinunter. »Und ich glaube nicht nur, dass du recht hast. Ich weiß es. Auch die Träume hier oben erzählen sich Dinge.«
    So begannen sie zu dritt, kleine bleischwere Pakete die Strickleiter hochzutragen. Es dauerte eine ganze Weile, und Frederic betete im Stillen, dass Bruhns nicht im nächsten Moment auftauchen würde. Er tauchte nicht auf. Vielleicht hatte ihn etwas aufgehalten – oder jemand. Dieses eine Mal verlor Murphy.
    Als sie alle zusammengeknäuelten Albträume aus dem Schacht geborgen hatten, lag nur noch ein letzter kleiner glänzender Gegenstand dort unten. Frederic kletterte zurück, um ihn aufzuheben.
    Es war der Dietrich. Der besondere Dietrich.
    Er schloss damit etwas auf. Etwas, von dem alle schon lange denken, dass es aufgeschlossen werden müsste: die Kette an Ännas Fuß. Die Eisenkugel blieb allein zwischen dem Schrott neben der Fabrik liegen. Änna würde nie mehr vom Schwebebalken fallen.
    Kann sein, dass sie Frederic danach noch mal geküsst hat. Man weiß es nicht genau.
    »Aber der Dietrich nützt nichts für die Käfige der guten Träume«, sagte der Traumwächter und seufzte. »Die Deckel der Löcher, durch die Bruhns sie hineingepumpt hat, besitzen keine Schlösser.«
    Kurz darauf standen sie zu dritt vor der Wand und sahen empor. Nein, sie besaßen keine Schlösser, der Traumwächter hatte recht. Sie glichen immer noch am ehesten den Deckeln von Gurkengläsern.
    »Es sind Schraubverschlüsse!«, sagte Frederic. »Kommen wir irgendwie dort hinauf, um sie aufzuschrauben?«
    »Wir nicht«, sagte der Traumwächter.
    Frederic sah die kleinen Pakete an, die zu ihren Füßen lagen. Er holte tief Luft und brüllte sie in seinem unfreundlichsten Tonfall an: »He, ihr! Macht euch gefälligst wieder groß, ihr Versager! Es gibt noch Dinge zu erledigen! Die anderen Träume müssen befreit werden, und Bruhns’ Maschine muss zerstört werden, und ihr sitzt herum und tut nichts!«
    Die Albträume streckten langsam ihre Fühler und Köpfe aus.
    »Ich musste so brüllen«, sagte Frederic leise zu Änna, »es gefällt ihnen, glaube ich, wenn man sie autoritär anbrüllt.«
    Oh ja, das gefiel den Albträumen. Sekunden später waren mehrere große, schleimige Wesen mit Saugnäpfen an den Füßen dabei, die Wände der alten Fabrikhalle hochzusteigen und die Gurkengläser-Schraubverschlüsse zu öffnen.
    »Hoffentlich«, flüsterte Frederic, »denken sie, es wäre sehr böse, was sie da tun.«
    »Ach«, sagte der Traumwächter. »Es ist gegen den Willen von Bruhns, das reicht schon. Sie mögen ihn auch nicht. Nicht einmal die Träume von Bruhns mögen Bruhns. Immerhin hat er sie eingesperrt.«
    So standen sie vor der Fabrik und sahen zu, wie aus all ihren Löchern bunte Dinge schlüpften wie Larven aus einem großen Käse. Es war ein durch und durch merkwürdiger Anblick.
    »Da!«, rief Frederic einmal. »Das ist der Schmetterling mit den Turnschuhen! Den kenne ich!«
    Nach dem Schmetterling füllten Träume von riesigen Schokoladentorten und von Ponyherden die Luft, Skiferien und Palmeninseln schlossen den blauen Himmel aus, Vorleseabende und Kinokarten flatterten durch die Luft, unbegrenzte Fernseherlaubnisse stießen beinahe mit Perserkatzen zusammen, ein eigenes Zimmer flog an einem Modellboot vorbei und eine neue Jeans querte den Weg einer Kaninchenzucht. Sie alle versammelten sich gemeinsam mit den Albträumen auf der braungräsernen Wiese. Ganz zum Schluss kam der Geburtstag angeschwebt, verbeugte sich galant vor Frederic und Änna und sagte höflich:
    »Herzlichen Glückwunsch.«
    Er hatte ein Nachtischbüfett mitgebracht, das er durch die Luft schwenkte wie eine Fahne, ein Büfett voller Kuchen und Sahnecreme, Weintrauben und Schokoladenfondue. Nur Pudding war keiner dabei, weder Vanille-
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