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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume
Autoren: A Michaelis
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war viele. Es hatte Klauen und Zähne, Flügel und Pfoten. Es hatte Gesichter und Augen. Es heulte verhalten, zischte und wisperte, als müsste es sich zurückhalten, nicht lauter zu sein.
    Lisa wich zurück, taumelte gegen Kahlhorst – und was war das? Jetzt lösten sich Menschen aus der Gruppe der seltsamen Wesen. Fünf Menschen. Vier davon waren Bruhns. Halt. Wie konnten vier Direktoren Bruhns die Treppe heraufkommen, wenn Bruhns gerade hinter der Tür dort verschwunden war?
    »Ich halluziniere …«, flüsterte Lisa. »Kahlhorst … ich glaube, mir ist nicht gut.«
    »Nein«, flüsterte Kahlhorst. »Sie sind da. Ich sehe sie auch.«
    Und dann rauschte etwas Riesiges an den vier Bruhnsen vorbei und landete vor Lisa und Kahlhorst. Es glich einem Vogel, doch es hatte keine wirklichen Umrisse. Es war, als hätte jemand das Fliegen an sich gezeichnet und zum Leben erweckt. Gezeichnet, oder geträumt. Von seinen großen Schwingen stiegen zwei Leute herab: Lisa schüttelte den Kopf. Sie sah dort, vor sich, am Kopfende der Treppe – Änna und Frederic.
    »Ihr … seid doch … tot!«, sagte sie. »Im Abrisshaus … verschüttet!«
    »Ja, nein «, antwortete Frederic. Was die Sache nicht unbedingt eindeutiger machte.
    Als er Lisas Gesicht sah, wusste er, dass es schwierig werden würde, ihr zu erklären, was geschehen war. Vielleicht musste man ein ganzes Buch darüber schreiben.
    »Wo ist Bruhns?«, fragte Frederic.
    Die Schulglocke klingelte eben zum Ende der Konferenz und zur zweiten Pause. Die Flure, die Treppe und die Aula begannen sich mit Schülern und Lehrern zu füllen. Als sie das Unerklärliche sahen, das sich auf der Haupttreppe versammelt hatte, wichen sie zuerst zurück, entsetzt, ohne zu begreifen. Dann regte es sich in ihren Herzen; von tief, tief unten aus ihrem Bewusstsein kam ein Raunen, ein Sehnen, ein Wispern: Sie wollten sich erinnern. Sie wollten ihre Träume zurück.
    Sie spürten, wie die unsichtbaren Marionettenfäden, die Bruhns an ihnen befestigt hatte, sich langsam auflösten. Sie spürten den Drang in sich wachsen, vorzustürmen, zu widersprechen, zu schreien und laut zu lachen.
    Doch noch war es nicht so weit.
    So hielt die ganze Schule den Atem an, in stiller Erwartung. Keiner wusste, worauf sie warteten. Aber es war groß, das spürten alle, groß und wichtig. Es war das Größte und Wichtigste, das es in ihrem Leben gab. Am Kopfende der Treppe standen neben einem Wesen, das ganz aus Schwingen zu bestehen schien, zwei Kinder.
    Man kannte sie. Sie waren einmal ein Teil von St. Isaac gewesen, doch man hatte sie stets mit Argwohn beobachtet, sie, die Außenseiter. Und jetzt? Was taten sie jetzt hier, inmitten dieses merkwürdigen Mittwochvormittags?
    »Wo ist Bruhns?«, fragte Frederic noch einmal in die Stille hinein.
    »Und wo«, fragte Änna, »ist seine Maschine?«
    Da öffnete sich die Tür des Sekretariats und in ihrem Rahmen stand, größer und hagerer denn je, Bork Bruhns, HD.
    »Ich bin hier«, antwortete er mit einem Lächeln im Gesicht. »Aber die Maschine werdet ihr nicht finden. Sie ist tief, tief in den Kellern von St. Isaac verborgen, und niemand außer mir kennt den Weg dorthin.«
    »Komisch«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Ich hätte schwören können, sie steht im Sekretariat in dem einzig verschlossenen Einbauschrank. Sie nimmt sehr viel Platz weg. Ich musste alle Akten umräumen. Und ich weiß noch nicht einmal, wozu die Maschine da ist.«
    Bork Bruhns fuhr ärgerlich herum. Hinter ihm war der Schreibtisch zu sehen und ein Bürostuhl. Auf dem Bürostuhl stand die Kaffeemaschine. Sonst nichts. Die Kaffeemaschine gluckerte und blubberte wie stets.
    Frederic schüttelte den Kopf.
    »Irre«, sagte er leise und nur zu Änna. »Die anderen sehen dort, wo wir die Kaffeemaschine sehen, eine Sekretärin!«
    »Was wollt ihr von mir?«, fragte Bruhns und tat so, als hätte er die Worte seiner Ka…, nein: seiner Sekretärin, nicht gehört.
    »Wir wollen, dass …«, begann Frederic. An diesem Punkt fiel ihm auf, dass er es versäumt hatte, sich eine kleine Rede auszudenken. Er stand da und suchte nach Worten. Schönen, schlagkräftigen Worten wie Freiheit für die Wale oder Walrecht für die Freien . Oder hieß es Frauen? Jedenfalls ging es hier und jetzt um keines von beiden. Einmal blickte die ganze Schule zu ihm auf, einmal wartete die ganze Schule darauf, dass er etwas Wunderbares, Pathetisches, Salbungsvolles sagte, das sie alle nie vergessen würden – und ihm
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