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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume
Autoren: A Michaelis
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Stiefmutter … und der böse Schuldirektor. Es muss so sein.« Er klang unendlich erschöpft. »Es gehört sich so.«
    Da trat Änna vor und nahm Bruhns ganz sacht an der freien Hand.
    »In einem modernen Märchen«, flüsterte sie, »laufen die Dinge anders.«
    Sie führte ihn aus dem Sekretariat wie einen zahmen Dinosaurier. Frederic sah ihr nach, mit offenem Mund. Dann folgte er den beiden. Als er sich bei der Treppe umdrehte, hörte er ein Fauchen. Er drehte sich um und sah, dass hinter ihm Josephine und Hendrik gingen.
    Das heißt: Josephine ging nicht.
    Hendrik trug sie. Sie wehrte sich wie wild – fluchte, strampelte, schlug um sich und biss ihn mit ihren Fingermäulern, doch Hendrik hielt sie eisern fest, eiserner noch, als der starke Georg es je gekonnt hätte.
    Kurz darauf gingen sie über den Schulhof, wo die Blätter der Kastanie bunt vor dem blauen Oktoberhimmel leuchteten. Eine Menge Leute hatten sich auf der Straße vor dem Hof versammelt, alte und junge; Lehrer und Schüler. Frederic konnte keinen einzigen Traum mehr sehen. Sie waren alle zurückgekehrt in die Köpfe der Träumer.
    Und die Träumer hoben diese Köpfe und sahen auf zu den altehrwürdigen Mauern von St. Isaac. Und die Bäume an der Schulhofmauer knisperten im Wind.
    Bruhns machte sich von Ännas Hand los wie ein Kind, das laufen lernt. Aber er trat nur zwei Schritte auf St. Isaac zu.
    Dort blieb er stehen und drückte auf den Knopf an seiner Fernbedienung.
    Der Knall der Explosion erschütterte nicht nur die Schule, er erschütterte nicht nur die Straße und die Reste des Abrisshauses, er erschütterte die ganze Stadt. Selbst die identischen Einfamilien in den Neubaugebieten fühlten ein Beben durch die Erde laufen; und die Polizisten, die am selben Tag beim Abrisshaus gewesen waren, hoben die müden Köpfe von ihren Kaffeetassen und sahen sich an.
    Und der Oktoberhimmel schwankte. Der gesamte Mittwoch schwankte.
    Schließlich fiel die Schulhofmauer um. Und St. Isaac löste sich auf. Die Kastanie wurde von einem herabsegelnden Stück Gestein in der Mitte gespalten. Und ein Parmafaulchen landete drei Straßen weiter in einem Garten, wo es endlich anwuchs, ohne zu faulen. Und dreihundertsiebzehn Schultische prasselten als Splitterregen auf den Gehweg herunter. Und ein Regen aus Pultkanten und Tafelspitzen ergoss sich über den Hof. Und dreihundertvier Fahrräder bäumten sich in ihrem Fahrradschuppen auf vor Schreck.
    Und sieben Lehrerautos wurden von Mauerbrocken erschlagen, was der Versicherung später sehr schwer zu erklären war.
    Und alles, alles vereinigte sich in der Luft, in die es flog, zu einem großen, übermächtigen Feuerwerk: Zigarettenstummel, Bilderrahmen, Notenständer, Zirkel, Klassenfotos, Klaviere, Bürostühle, Kaugummipackungen, Blumentöpfe, Landkarten, Wasserfarben, Computerbildschirme, Tonvasen, Füllfederhalter, Filmleinwände, Bleistiftanspitzer, Linoleumböden, ausgestopfte Tiere, Fußbälle, Raufasertapeten, Sammelalben, Fensterglas, Geodreiecke, Sprossenwände, Aschenbecher, Telefonleitungen, Notenhefte, Turnmatten, Schwebebalken, Taschenrechner, Einbauschränke, Millimeterpapier, Kopiermaschinen, Schulranzen, Kleiderhaken, Lexika – alles, alles, alles, alles.
    Die Schüler und Lehrer sahen es fliegen und eine große Erleichterung machte sich in ihnen breit. Natürlich würde alles weitergehen. Natürlich würde es andere Klassenzimmer, andere Bleistiftanspitzer, andere Füllfederhalter und Taschenrechner geben. Jedoch unter anderen Bedingungen. Jetzt und hier war ein Ende erreicht.
    St. Isaac verschwand an diesem Tag vom Erdboden, mit allem, was es je bedeutet hatte.
    Und – niemand sah es – doch mitten im Durcheinander erhoben sich die steinernen Engel in die Luft. Sie schüttelten ihre steinernen Flügel, reckten ihre steinernen Arme und Beine und wandten die steinernen Gesichter gen Süden.
    Man hat sie unter den Trümmern der Schule nicht gefunden.
    Vielleicht sind sie nach Italien geflogen, wo es ihresgleichen mehr und an passenderen Stellen gibt.
    Und dann? Nachdem sich der Sturm aus Papier und Gedanken gelegt hatte? Nachdem alle sich den Staub aus den Haaren geschüttelt hatten und wieder wagten zu atmen? Was geschah dann?
    Dann sah Frederic seinen Vater an, der neben ihm stand. Er hielt noch immer Josephine an der Hand. Die Tränen auf ihrem Gesicht hatten sich mit dem Staub zu einem schlammigen Matsch vereinigt, und als sie darüberwischte, wurde es nicht besser.
    »Ich … ich wollte
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