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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume
Autoren: A Michaelis
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der Tür.
    »Hendrik?«, rief er. Um ihn herum tobte noch immer das Geschrei der Traumjagd.
    Jetzt trommelte jemand von innen gegen die Tür. »Ja? Jaaa? Halloooo?«
    Frederics Finger suchten den besonderen Dietrich in seinen Taschen. Als er ihn fand, bekam er ihn kaum ins Schlüsselloch, so sehr zitterten seine Finger. Warum war Hendrik hier?
    Die Klinke bewegte sich, das Schloss gab nach. Zwei Leute, die glaubten, niemand sähe es, umarmten sich in einem Schulflur.
    »Hendrik«, sagte Frederic.
    »Frederic«, sagte Hendrik.
    Der Rest war Schweigen. Wie gewohnt.
    Und dann wurde die Geräuschkulisse des Chaos unterbrochen. Durch die Lautsprecher von St. Isaac dröhnte eine bekannte Stimme, die in den letzten fünfzehn Jahren Hunderte von Durchsagen gemacht hatte.
    »Achtung«, sagte diese Stimme. Sie gehörte Bruhns, Bork Bruhns, HD.
    »Achtung, dies ist eine Durchsage.« Ach was. »Es wäre besser, wenn alle Schüler und Lehrer das Gebäude verließen.« Er klang beunruhigend ruhig. »Ich gebe euch fünf Minuten.« Damit knisterte es in der Lautsprecheranlage und sie verstummte mit einem unangenehm endgültigen Knacken.
    »Was …?«, fragte Hendrik.
    »Schwindtex«, sagte Frederic.
    »Wie bitte?«
    »Komm.« Frederic packte seinen Vater an der Hand und sie rannten. Am Treppenabsatz des ersten Stockwerks, wo die Tür zum Sekretariat lag, trafen sie Änna. »Komm!«, rief Frederic. »Raus hier!«
    Doch sie weigerte sich, ihm zu folgen. »Er ist da drin! Im Sekretariat! Bruhns. Aber ich kriege die Tür nicht auf.«
    »Änna, er verwandelt St. Isaac in eine Handvoll Trümmer! Komm!«
    »Und dann? Verwandelt er sich mit in Trümmer? Josephine ist auch dort. Wir müssen …«
    »Änna …«
    »Frederic …«
    » Verdammt noch mal!«, schrie er ärgerlich und holte den besonderen Dietrich heraus. »Hendrik, lauf! Bitte!«
    »Ich denke nicht daran«, sagte Hendrik.
    Die Tür zum Sekretariat hielt dem besonderen Dietrich nicht lange stand.
    Drinnen lehnte Bruhns am Fenster, direkt neben dem legendären Parmafaulchen, und sah hinab in den Hof.
    »Sie lassen sie entkommen!«, sagte Josephine.
    Er seufzte. »Ich fürchte, ja.« Damit drehte er sich zu Änna und Frederic um. In seiner Hand war etwas, das einer Fernbedienung für einen Fernseher glich.
    »Sie sind übergeschnappt!«, keuchte Frederic. »Geben Sie das Ding her! Wenn Ihre Maschine hier drin ist, fliegt sie sowieso mit in die Luft!«
    »Das wird sie wohl«, sagte Bork Bruhns.
    Frederic merkte, wie Änna den HD ansah. Ohne Eile. Lange und ausgiebig.
    »Sie haben Ihre Albträume wieder«, sagte sie schließlich. »Sie sind jetzt jemand anders.«
    Bruhns nickte. »Deshalb ist es besser, wenn alles in die Luft fliegt. Geht. Beeilt euch.«
    Änna schüttelte den Kopf.
    »Geht!«, schrie Josephine. In ihren Augen standen Tränen. »Ich wollte sie nicht wiederhaben!«, rief sie. »Ihr habt sie zurückgebracht, aber ich wollte sie nicht wiederhaben! All die Träume von den Dingen, die man nie bekommt! Von Eltern, die Zeit für einen haben! Von Orten, an denen ich Dinge finde, die wichtiger sind als die Schule! Und die Albträume! Vom Versagen! Geht weg! Lasst uns in Ruhe! Wir bleiben hier! Wir gehen mit St. Isaac unter! Es gibt nichts mehr, wofür es sich lohnen würde zu leben! Aber ihr – ihr versteht ja nichts. Nichts! Nichts! «
    Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen. Würdelos und hysterisch, wie ein kleines Kind. Bruhns legte ihr eine Hand auf die Schulter. Frederic merkte, dass seine braunen Augen nicht mehr leer waren.
    Änna hatte recht. Er war jetzt ein anderer.
    Er hatte die Albträume gebraucht. Jeder brauchte wohl seine Albträume, genau wie die guten Träume. Und ohne den Albtraum von seinem Vater war Bork Bruhns so geworden wie dieser Vater. Aber jetzt befand sich der alte Mann wieder in Bruhns’ Kopf. Und er würde ihn nie verlassen.
    »Kommen Sie mit«, sagte Hendrik, seine Stimme zitternd vor mühsamer Vernunft. Auch Hendrik hatte inzwischen begriffen, worum es ging. Dass etwas im Rektorat war, das auf den Knopfdruck der Fernbedienung wartete. Etwas, das explodieren würde. »Sie wollen sich doch nicht wirklich mit diesem ganzen alten Kram zusammen in Fetzen auflösen.«
    Bruhns sah wieder aus dem Fenster, in die Ferne.
    »Es ist ein Märchen«, sagte er leise. »Die ganze Geschichte. So etwas Unsinniges muss ein Märchen sein. Und im Märchen sterben die Bösen am Ende. Der Wolf bei den sieben Geißlein … die böse
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