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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume
Autoren: A Michaelis
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fiel nichts ein.
    Er schwieg, wie er acht Jahre lang zusammen mit Hendrik am Küchentisch geschwiegen hatte.
    Aber er brauchte gar nichts zu sagen.
    Denn in diesem Moment traten aus der Masse der Albträume die Direktoren heraus. Zuerst waren es vier, dann zehn, dann zwanzig, und es wurden immer mehr. Sie gingen auf Bruhns zu und schüttelten ihm die Hand, einer nach dem anderen. Es war ein stummes, beunruhigendes Ritual, dessen Bedeutung keiner kannte. Auch Bruhns nicht. Er wurde bei jedem Handschütteln verwirrter, das sah man ihm an. Und vielleicht war genau das der Sinn der Sache.
    Nach dem letzten Bruhns jedoch trat ein anderer Traum vor. Es war der Traum von dem alten Mann, der im Keller der Albträume den Jungen in sein Zimmer eingeschlossen hatte. Der Albtraum, der von sich selbst gesagt hatte, er würde seinen Sohn immer verfolgen.
    Bruhns’ Vater.
    »Nein«, sagte Bruhns und machte einen Schritt zurück. »Nein. Du bist nicht da. Ich habe dich aus meinem Kopf gepumpt. Verschwinde! Komm mir nicht zu nahe!«
    »Du hast es nicht geschafft!«, zischte der alte Mann. »Sie sind dir auf die Schliche gekommen! Und weißt du auch, warum, mein Lieber? Du hast zwei von ihnen entkommen lassen! Zwei deiner eigenen Albträume! Sie waren nicht böse genug! Nicht schwer genug, um in den Kellerschacht zu fallen! Und einer von ihnen hat dich verraten, kleiner Bork!«
    In diesem Augenblick kam Frederic ein seltsamer Gedanke: War es wirklich ein Versehen gewesen, dass Bruhns die alte Rattendame in einen der unteren Käfige gesperrt hatte? Einen Käfig mit Gully, aus dem sie hatte entkommen können? Oder hatte ein winziges, kaum sichtbares Stück von Bork Bruhns gehofft, dass jemand herausfand, was er tat? Dass jemand ihn daran hinderte? Stammte am Ende auch das spezielle Vitamin A aus Bruhns’ eigenen Träumen?
    »Versager!«, rief der alte Mann und erdolchte mit seinem Zeigefinger die Luft. »Versager! Versager! Versager! Du hast versucht, so zu sein wie ich, aber du warst nicht gut genug! Nie!«
    Bruhns war noch einen Schritt zurückgetaumelt. »Das ist nicht wahr«, sagte er. »Ich war gut. Sieh dir diese Schule an! Fünfzehn Jahre …«
    »Firlefanz!«, keifte der alte Mann. »Kinkerlitzchen! Was sind schon fünfzehn Jahre!«
    Da geschah etwas Überraschendes. Eine Gestalt löste sich aus der Menge der schweigenden Schüler und Lehrer: Josephine.
    Sie rannte auf den Traum des alten Mannes zu, die Hände mit den winzigen Mäulern an den Fingern ausgestreckt, ihr Gesicht verzerrt vor Wut.
    »Lassen Sie ihn in Ruhe!«, rief sie. »Sie …«
    Weiter kam sie nicht.
    Ihr Ausbruch hatte das stumme Schweigen und Starren gebrochen. Plötzlich kam Bewegung in die Menge. Und es kam Bewegung in die Traumwesen. Die Albträume erhoben sich mit einem Heulen aus vielen Hundert Kehlen, die guten Träume flatterten verwirrt in alle Himmelsrichtungen auseinander und die Menschen rannten. Denn jetzt, jetzt versuchten alle Träume, ihre Besitzer wiederzufinden. Jeder Schüler von St. Isaac sah sich verfolgt von einer Horde unsinniger Wesen, die er selbst geschaffen hatte, gehetzt bis in die hintersten Winkel der alten Schule. Korridore und Treppenhäuser hallten wider vom Gekreisch und Geheul der Albtraum-Gestalten, vom Flattern und Kichern der guten Träume, hallten wider von den Angstschreien der Kinder: Das Chaos war entfesselt.
    Frederic sprang zur Seite, um die Träume und ihre schreienden Opfer vorbeizulassen, wurde umgestoßen, landete auf dem Boden … Wo war Bruhns? Wo Josephine? Und wo war Änna?
    Er kam hoch, wurde gleich wieder mitgerissen, wurde von der Panik zwischen den Wänden entlanggespült wie von einem übermächtigen Strom und kam nicht dagegen an. Neben ihm rannte der starke Georg vor einem Albtraum von einem Schwächeanfall weg. Und Frederic rannte ebenfalls, rannte um sein Leben, rannte, um nicht niedergetrampelt zu werden. Schließlich fand er sich in einem leeren Flur wieder, in einem Flügel der Schule, wo die alten Klassenzimmer nicht mehr benutzt wurden. Er blieb stehen, stützte die Hände in die Seiten und rang nach Luft.
    Und da, mitten im Tumult der widerhallenden Schreie, hörte Frederic eine Stimme, die er nicht hier erwartet hatte.
    Hendriks Stimme.
    »Was zum Teufel ist los da draußen?«, rief Hendrik. »Hallo? Haaaalloooo! Was macht ihr da? Reißt ihr die Schule ein?«
    Die Stimme kam aus einem der leeren Klassenzimmer. Einem nicht-so-leeren Klassenzimmer, wie es schien. In Sekunden war Frederic bei
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