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Nachruf auf eine Rose

Titel: Nachruf auf eine Rose
Autoren: Elizabeth Fenwick
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warteten auf die Eröffnung von Onkel Alans Testament. Sie hatten sich für zwei Stühle in der hintersten Ecke entschieden, um die bequemeren, ledergepolsterten Sitzgelegenheiten für in der Erbfolge bedeutendere Familienangehörige frei zu lassen. In der ersten Reihe, direkt gegenüber dem ausladenden Nussbaumschreibtisch, hatten Colin, der Schwager des Verstorbenen, und seine Frau Julia, die Schwester von Alexanders Mutter, Platz genommen. In würdevoller Stille, ganz nach der neuesten Mode gekleidet, saß sie da, eine immer noch schöne Frau, obgleich sie das mittlere Lebensalter schon erreicht hatte.
    Dahinter saßen oder lümmelten sich ihre sechs erwachsenen Töchter und warteten ungeduldig darauf, zu erfahren, was ihr reicher Onkel ihnen hinterlassen hatte. Von seinen sechs Cousinen war Lucy, die jüngste der Schwestern, die Einzige, die Alexander wenigstens halbwegs leiden konnte. In seiner Kindheit hatte er im Hause seines Onkels immer wiederkehrende Demütigungen erfahren, und keiner hatte sich seiner angenommen.
    Während sie auf den Rechtsanwalt warteten, wurde die Luft im Raum stickig. Seit vielen Jahren war Jeremy Kemp der Rechtsberater der Familie Wainwright, und er würde sich hüten, vor dem Eintreffen von Alan Wainwrights einzigem Sohn Graham mit der Testamentseröffnung zu beginnen. Obwohl dieser die vierzig bereits hinter sich gelassen hatte, kam er als unverbesserlicher Bohemien stets zu spät und galt allseits als das schwarze Schaf der Familie. Von einer überfürsorglichen Mutter hoffnungslos verwöhnt und einem eifersüchtigen Vater abgelehnt, war es nicht verwunderlich, dass Graham seinem Zuhause und auch dem Familienunternehmen bald den Rücken gekehrt hatte.
    Um Viertel nach drei, genau fünfzehn Minuten zu spät, betrat Graham den Raum. Er war nicht allein.
    «Allmächtiger, was schleppst du denn diesmal an?» Colin wurde puterrot im Gesicht.
    Graham lächelte erfreut, dass seine Absicht nicht unbemerkt geblieben war.
    «Kein was, lieber Onkel, sondern wen! Das ist Jenny, eine Freundin.»
    Jenny war, gelinde gesagt, sehr spärlich bekleidet. Trotz des kalten Vorfrühlingstags trug sie einen kurzen, bis zum Oberschenkel geschlitzten Rock sowie ein weißes Top mit dünnen Trägern. Beide Kleidungsstücke verrieten deutlich, dass sie sich heute gegen das Tragen von Unterwäsche entschieden hatte. Alexander wunderte sich, dass sie nicht fror. Colin hatte Mühe, sie nicht anzustarren.
    Jeremy Kemp betrat hinter Graham das Büro. Rasch und unauffällig musterte er die Anwesenden, wobei er Sally, Alexanders Frau, mit einem etwas längeren Blick bedachte und ihr leicht zulächelte, daraufhin frischen Tee bestellte und jeden der Besucher mit Namen begrüßte. Er kannte sie alle, da sowohl die privaten als auch geschäftlichen Angelegenheiten der Familie Wainwright den größten Teil seines Umsatzes und den gesamten Gewinn seiner Kanzlei ausmachten. Als der Tee serviert wurde, setzte er sich schweigend an seinen Schreibtisch und rief die plappernde Gruppe vor ihm zur Ordnung.
    «Guten Tag, meine Herrschaften. Wie Sie alle wissen, sind wir hier versammelt, um den letzten Willen von Alan Winston Wainwright zu verlesen.» Er legte die Schriftstücke vor sich auf dem Schreibtisch aus und blickte in die erwartungsvollen Gesichter.
    «Dies ist der letzte Wille und das Testament von Alan Winston Wainwright, erstellt am dritten Januar dieses Jahres.»
    Jemand der Anwesenden ließ ein schwaches Keuchen vernehmen. Er hatte sein Testament zwei Monate vor seinem Tod geändert. Warum?
    « Ich , Alan Winston Wainwright , im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte … » Angestrengt lauschend warteten die Familienmitglieder auf die erste Erwähnung des Nachlasses. « … vermache meiner Schwester , Julia Wainwright-McAdam , ein Einkommen von dreißigtausend Pfund jährlich , als Anerkennung der moralischen Unterstützung , die sie meinem Unternehmen in den vergangenen dreißig Jahren hat zukommen lassen .»
    Julia hatte das Unternehmen völlig ignoriert und von dem Treuhandfonds ihrer Mutter gelebt, ihre Zeit guten Werken gewidmet, die gerade en vogue waren, bis sie schließlich Colin kennen gelernt und geheiratet hatte. Sie hatte in dem festen Glauben gelebt, einmal ein ernst zu nehmendes Mitglied in wohltätigen Kreisen zu werden, und im Moment sah sie ausgesprochen zornig aus. Nach ihren Maßstäben war diese Summe ein Witz und würde noch nicht einmal ihre Ausgaben für Garderobe und Schönheitsbehandlungen
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