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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein
Autoren: Lisa Kraenzler
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mich ein Gefühl, von dem ich nicht weiß, ob es Freude oder Panik ist.
    Was jetzt? Dass man mit dem Fahrrad schneller im Dorf ist als mit dem Bus, ist nichts Neues und daher kein geeigneter Gesprächsgegenstand ⁠…
    Ich schließe auf und gebe eine kleine Führung durch unser Haus, wobei ich mir das obere Stockwerk mit Galerie, Klavier und dem Trumpf Bild Nr. 17 bewusst bis zum Schluss aufspare. Am Ende ist es jedoch nicht das Foto, sondern die Plattensammlung meines Vaters, die uns von unserer Befangenheit erlöst.
    Offenbar kennt der Cellist viele der Alben und muss seine Auswahl nicht anhand ihrer Cover treffen. Umso mehr freut es mich, dass ich die erste Platte, die er auflegt, schon unzählige Male gehört habe. Es ist die »Rocket to Russia« von den Ramones, und während »Cretin Hop« überlege ich kurz, ob ich ihm von meiner längst vergangenen Faszination für Wernher von Braun erzählen soll. Nein.
    Ich sollte endlich was zu trinken anbieten ⁠… Nur was?
    Kurzerhand fordere ich den Cellisten auf, mich in den Keller zu begleiten, damit er den Inhalt unserer Regale und Kisten selbst inspizieren kann.
    Seine Suche nach der obligatorischen Bierkiste verläuft erfolglos.
    Wir kramen weiter, lesen Etiketten und Jahreszahlen, zeigen einander Weinflaschen und überlegen, was sich unbemerkt entwenden ließe.
    Nach einigem Stöbern entdeckt der Cellist einen klirrenden Karton unterhalb des Lichtschachtes, dessen Inhalt sich als Champagner entpuppt.
    »Zwei Köpfe, zwei Flaschen?«
    Ich nicke zustimmend.
    Unsere Wahl fällt auf einen »Champagne Louise Pommery« und einen »Baron de Rothschild Brut«.
    76.
    Eine Minute vor Sonntag. Auf dem Plattenteller kreist »Disintegration« von The Cure.
    Wir sitzen mit gekreuzten Beinen auf dem Wohnzimmerteppich. Die Kerze im Hals der leeren »Louise Pommery«-Flasche ist die einzige Lichtquelle. Im Blick des Cellisten glimmt der Widerschein der Flamme. Schwerelos falle ich in die flackernde Schwärze seiner Augen wie in einen Brunnen. Robert Smiths traurige Singstimme übernimmt das Reden.
    Es wird Sonntag.
    Erste Wachsflecken verzieren den Teppich. Plötzlich ist mir nach Luft und Laufen zumute, danach, meinen Körper zu spüren, in Besitz zu nehmen und zu gebrauchen, was sich schauend auflöst, verschmilzt und verschwindet. Ich lecke mir die Finger ab und zerquetsche die Flamme, die zischend ihr Leben aushaucht.
    Diesmal bin ich es, die nach seinem Handgelenk schnappt: »Lass rausgehen ⁠…«
    Zielsicher steuere ich uns durch die Nacht und geradewegs auf den Klotz zu, dessen warme, steinerne Oberfläche an die Hitze des Vortags erinnert. Gras und Gestrüpp wachsen und wuchern wild wie eh und je. Das Grundstück wird noch lange keiner kaufen.
    Der Cellist entkorkt den Baron.
    Wir plappern vor uns hin, lachen über alles und nichts und lassen unsere Sprechblasen wie Champagner-Perlagen Richtung Himmel aufsteigen.
    Er erzählt mir, dass er ein Stadtkind ist. Also zeige ich ihm meine Felder.
    Auf dem Schlittenhügel reicht mir das Gras bis an die Schenkel. Zu unseren Füßen wogt hell und silbrig ein Weizenmeer. Es riecht nach Erde.
    Mit ausgebreiteten Armen lasse ich mich vornüberfallen und kugle über die grüne Kuppe. Oben und Unten vertauschen sich, bis mich die Ebene ausbremst. Alles dreht sich. Aus der Mitte eines Strudels aus Himmel und Gras taucht das Gesicht des Cellisten auf. Die leuchtendweiße Roulettekugel, die der Mond ist, kehrt auf ihren Platz zurück. Wir verbringen die Nacht in den Wiesen.
    Die Vögel zwitschern früher als gedacht.
    Im Osten verzieht sich das Dunkel. Hinter der Horizontkulisse wartet die Sonne auf ihren Auftritt. Bald ist es so hell, dass selbst die Grasflecken auf meinen Knien zu leuchten beginnen. Wir stehen im Hof.
    Er streicht mir die Haare aus der Stirn und legt seine Lippen auf meine. Ich schließe die Augen und muss an die Beeren hinterm Haus denken, an Erdbeerrot und Himbeerweich und daran, wie mir manchmal schwarz wird, schwarz mit kleinen Funken, wenn ich mich nach dem Pflücken zu schnell aufrichte, denn so, genauso, schmeckt er.
    Schwankend stehe ich auf den Steinplatten, die unter meinen Füßen nachgeben wie Gartenerde.
    Zum Ende der Berührung klappen meine Lider hoch.
    Ich sehe die Platten, grau und hart wie immer. Nur meine Knie bleiben weich.
    Als er sein Fahrrad Richtung Gehweg schiebt, öffnet sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Rollladen. Ein zweiter Kuss nimmt mir die Sicht. Doch dann muss er los
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