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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein
Autoren: Lisa Kraenzler
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voll, die Nachttischlampe zu schwach. Um besser tasten zu können, klemme ich die rechte Schulter unter das Regalbrett und stemme es hoch. Winterfeste Kleidertürme rutschen über den schiefen Brettboden und stürzen ein.
    Irgendwo hier muss sie sein ⁠…
    Endlich spüre ich die Schachtel unter meinen Fingern, und sowie ich das Gesuchte sicher auf dem Teppich weiß, lasse ich das Brett von der Schulter plotzen. Verdammt! Der laute Knall, mit dem sich der Tresordeckel schließt, war so nicht beabsichtigt ⁠…
    In der Hoffnung auf tief in Schlaf (Mutter) und Arbeit (Vater) versunkene Eltern, zerre ich den Schuhkarton ins Nachttischlampenlicht. Auf dem Weg zum Bett verrutscht und fällt der Deckel, als drängten die Briefe von selbst ins Freie.
    Ich greife ins Papier, schlage auf, falte auf, lese. Absender und Poststempel beweisen, dass sie mir fast täglich aus dem PLK geschrieben hat. Alle Umschläge wurden geöffnet. Dennoch erkenne ich die Zeilen nicht wieder.
    Vielleicht sind mir die Worte deshalb fremd, weil ich sie gelesen habe, wie man in die Sonne blickt: kurz, schnell, ängstlich, mit schmerzenden Augen.
    Ich lese weiter. Lese Sätze, die eigentlich unvergesslich sind, während mein Gedächtnis stur darauf beharrt, nicht einen davon je gesehen zu haben.
    Vielleicht, weil ich ihr nie geantwortet habe.
    66.
    Ich sitze am Klavier und spiele das Lied. Das alte, alte Lied ⁠…
    Man hat mich gewarnt, doch meinen Fingern ist’s egal. Sie bilden eine furchtlose, zehn Glieder starke Truppe, die unbeirrt über Elfenbein und Ebenholz klettert, schnurstracks der verbotenen Strophe entgegen. Ein letzter Ton, dann ist es zu spät. Glühbirnen bersten, die Galerie verdunkelt sich.
    Zwei gehäutete, blutrote Pranken verschmieren die Klaviatur, verprügeln ihr Weiß. Es sind meine, zweifelsohne, doch was mir gehört, gehorcht nicht länger. Das Fleisch jenseits der Handgelenke regiert sich selbst. Im Unterarm sammelt sich ein Haufen verzweifelter Befehle, ein Cluster vergeblicher, wirkungsloser Anweisungen – ein sinnloses Bemühen um Sanftheit.
    Ich begreife, dass sich meine mir einstmals gewogenen Greifwerkzeuge verschworen und mich entmündigt haben, dass ich ein Anhängsel bin, ein Paar Beine, von dem sie sich Nutzen versprechen, nichts weiter.
    Die Brutalität der Anschläge nimmt zu. Tasten verpulvern unter dem Pressdruck gewalttätiger Finger. Ewigweiße Granulate rieseln Richtung Boden, wo pelzige, schwarze Teppichfasern ihre Arme wie Seeanemonen emporstrecken. 88 schneefarbene Kristallfälle regnen in hohen, glitzernden Bögen vom Klavier, berühren das Dunkel und lassen sich schlucken. Ein Windstoß befreit das Holz vom letzten Stäubchen Taste. Spielen wird zur Unmöglichkeit. Ratlos sitze ich vor einem Sarg für Saiten und Hämmerchen.
    Allein die Pranken wissen, was zu tun ist. Vorsichtig falten und verkleinern sie das Teppichrechteck, in welchem ich die Tastenschar verschwinden sah. Keines der kostbaren Körnchen darf verloren gehen, sonst ist es aus, aus und vorbei. Die einzige Chance, jemals zu den Klängen zurückzukehren, besteht in der Vollzähligkeit der Stäubchen.
    Die Pranken falten weiter.
    Der Fasernwald schrumpft. Aus seinem Innern kracht und knackt und knirscht es, als wären dort Tausende Backenzähne am Werk. Mit dem nächsten Wimpernschlag ist es vollbracht: Die raue, rabenschwarze, auf Briefmarkengröße komprimierte Raute im feuchten Feuerrot meiner Pranke ist alles, was von Raum und Teppich geblieben ist.
    Asphaltgraue Kälte verrät meinen Fußsohlen, dass ich mich im Freien befinde. Ich kann das beigefarbene Haus sehen, dessen Giebel in flirrende Bläue sticht. Das Fenster hinter der Laterne zeigt seine Scheiben. Kein Rollladen, kein Vorhang, nichts, was meine Sicht auf die gläsernen, sich langsam öffnenden Flügel versperrt.
    Sie erwartet mich.
    Hüftabwärts bewegen sich meine Beine. Ich muss ihnen folgen. Im Gehen füllt sich meine linke Faust mit kieseligen, ovalen Formen. Was ⁠…?
    Der Druck im Innern der komprimierten Teppichschwärze tablettiert das Tastengranulat.
    Nein! Das kann nicht ⁠…
    Der Gedankenwust in meinem Schädel formt keine Sätze mehr.
    Ein schrilles, gequältes NICHT !, mehr bringe ich nicht zustande.
    Kaum, dass die letzte Silbe verklungen ist, erscheint JasminCelineJustine am Fenster. Mein Rufen hat sie angelockt. Zwei Schritte noch, dann bin ich bei ihr.
    Vor mir klafft es rachenrot. JasminCelineJustines Gesicht ist ein spitzes, weit aufgerissenes
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