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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein
Autoren: Lisa Kraenzler
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gehört nun ganz den Fenstern, welche wie zwei sauber ausradierte Flächen im Gewebe der Vorhänge sitzen. Voller Spannung, mit einer Geste, als enthüllte ich die Skulptur eines großen Meisters, entschleiere ich die Scheiben.
    Draußen liegt Schnee.
    68.
    Für eine Rückkehr zu Bett, Schlaf und Träumen fehlt mir der Mut. Es wird ein langer Tag werden.
    Ich steige Treppen und mache einen Abstecher ins Bad, wo ich mich fest in den Bademantel meines Vaters wickle. Da die Fußbodenheizung offenbar auch im Sommer zuverlässig anspringt, sind Socken unnötig.
    Ich setze mich in die Küche und schalte das Radio ein. Moderatoren und Anrufer zeigen sich verblüfft über den plötzlichen Kälteeinbruch. Der Wetterfrosch spricht von »Schafskälte«. Seine Erklärung jener »meteorologischen Singularität« im Ohr, nehme ich die Schicht, welche die Steinplatten hinter der gläsernen Küchentür weiß überzuckert, genauer unter die Lupe. Der »Schnee« entpuppt sich als eine körnig-kugelige Anhäufung von Hagelkörnern in Jelly-Bean-Größe. Trotzdem: Schicht ist Schicht, und laut Radio liegt der Küchenboden, auf dem ich sitze, lediglich zweihundert Höhenmeter unter der Schneefallgrenze der vergangenen Nacht.
    Je länger ich das Weiß betrachte, in dem die ersten, schrägen Sonnenstrahlen kleine, glitzernde Feuerchen entzünden, desto sicherer bin ich mir: Das da draußen, das ist MEIN Wunder.
    Gott hat in meine Träume geblickt. Und wie ihm selbst in schwärzester Nacht das Krabbeln einer schwarzen Ameise auf schwarzen Felsen nicht entgeht, so ist ihm auch mein Verlust nicht entgangen. Sowie mein kostbares Tastengranulat in JasminCelineJustines Schnabel verschwunden war, befahl er den himmlischen Chören, ihre Orgeln zu zertrümmern, auf dass die Essenz ihrer Klaviaturen das Land bestäube. Was ich verloren habe ist, tausendfach vermehrt, zu mir zurückgekehrt.
    Ich nähere mich der kalten Scheibe, bis meine Nasenspitze auf Glas trifft und ich die Spiegelung meiner Augen sehe. Meine Fenster im Fenster. Mit Iris und Pupille verzierte Glaskörper durch die man, an klaren Tagen, die Seele sieht.
    Die Stimme unseres dicken Dekans und der hundertfach von mir nachgesprochene, magische Satz hallen in meinem Kopf wider. Unwillkürlich flüstert mein Mund die tröstende Formel. »… und sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.«
    Ich frage mich, welches das Wort ist, mit dem er die Wolken heute Nacht zum Abregnen kleiner, bepanthenweißer Kugeln gebracht hat ⁠… Aber vielleicht genügt für derartige Kleinigkeiten auch ein Fingerzeig oder ein Nicken seines allmächtigen Hauptes. Mit dem Zeigefinger fahre ich die Konturen der Häuser und Hügel nach und verinnerliche ihr Weiß, das sich wie Balsam auf meine wunde Seele legt.
    Vielleicht bin ich nicht ganz so unschuldig wie das Weiß auf den Dächern ⁠… Das Mädchen in der Scheibe zuckt mit den Schultern. Na und?
    Was immer ich getan habe, heute Nacht hat Gott das Tipp-Ex ausgepackt, es zugedeckt, ausgelöscht, verschwinden lassen.
    Den Blick fest auf die bereits schmelzenden Klumpen aus Eiskristallen gerichtet, wiederhole ich den zweiten Satz, an den ich glauben muss, der mein Gebet, mein Mantra, meine Zauberformel ist: » ICH BIN NICHT SCHULD .«
    Der Beweis meiner Unschuld, die Manifestation meines Freispruchs, liegt auf den Straßen, den Dächern, den Blättern und Grashalmen. Das Mädchen in der Scheibe nickt bekräftigend.
    Ja. Das da draußen kann nichts anderes bedeuten.
    Im Radio beklagt sich der nächste Anrufer. Ein leises, weit entferntes Rauschen erzählt vom allmorgendlichen Duschgang meiner Mutter. Jenseits der Brombeerhecke gehen erste Lichter an. Die Nachbarschaft erwacht. Eine Hundertschaft gähnender Gestalten tritt an die Fenster und bestaunt ein Zeichen, das mir gehört. Nur mir.
    69.
    Da unser Mathematiklehrer übers Wochenende einen Schlaganfall erlitten hat, entfällt die letzte Stunde. Dank dieses Vorfalls potenziert sich die Zeit, die dem Ägypter und mir bleibt, um den Bus zu erwischen, schlagartig um ein Vielfaches, und wir leisten uns den Luxus, gemächlich Richtung Innenstadt zu schlendern.
    Eine gründliche Untersuchung aller Hosen- und Jackentaschen sowie des Rucksacks und der Ledermappe ergibt, dass unser zusammengelegtes Münzgeld sowohl für das Abholen der längst entwickelten Ferienlager-Fotos des Ägypters als auch für einen Abstecher ins Il Cappuccino ausreichen sollte.
    Meine Bewunderung für die Fähigkeit des Ägypters,
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