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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein
Autoren: Lisa Kraenzler
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überlässt, breite ich die uralten, völlig zerlesenen Ausgaben wie Tarotkarten vor mir auf dem Teppich aus.
    Die Namen »Karl Marx« und »Friedrich Engels« habe ich schon mal gehört. Keine Ahnung, wer die anderen sind, und was sie mit mir zu tun haben sollen. Auf dem Teppich liegen: »Die Dinge wie sie sind« von William Godwin, »Eroberung des Brotes« von Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, »Erinnerungen eines Revolutionärs« von Victor Serge sowie »Das Kapital« von Karl Marx und ein Reclamheft mit dem Titel »Manifest der Kommunistischen Partei«.
    Des Weiteren finde ich in »Politische Gerechtigkeit«, ebenfalls von William Godwin, die Kopie eines Artikels mit der Überschrift »Anarchistische Symbolik«, und ich muss gestehen, dass sich mir der tiefere Sinn dieser speziellen Buchauswahl erst beim Anblick der schwarzen Fahne und des eingekreisten As erschließt. Unwillkürlich hebe ich die Augen zu Pinnwand und Bild Nr. 17 auf.
    Die Haare des Cellisten hängen ihm nass und dunkel in die Stirn. Am höchsten Punkt seiner linken Ohrmuschel reflektiert ein kleiner, silberner Ring das Blitzlicht der Kamera.
    Mein Kopf liegt dicht über dem ausgerissenen Kragen seines schwarzen T-Shirts, auf dessen Brust, kaum größer als ein Fünfmarkstück, ein weißes, von einem Kreis umschlossenes A prangt.
    72.
    Der Tag, an dem meine Eltern zum ersten Mal ohne mich das Land verlassen, ist ein Donnerstag. Freitagmorgen wird mein Vater einen Vortrag an der University of Warwick halten. Freitagsvorträge waren bislang seltene, günstige Gelegenheiten für gemeinsam verbrachte Familienwochenenden gewesen. Glücksfälle, die meine Schulwoche verkürzten, die Blaumachen und Reisen und seltsame Mitbringsel ermöglichten.
    Dieses Mal wird alles anders.
    Als ich dem Taxi mit den Schatten meiner Eltern auf den Rücksitzen nachwinke, begreife ich, dass unser Haus nun bis Sonntagabend mir gehören wird. Mir allein.
    Der Gedanke an drei Tage Alleinherrschaft, an Freiheit anstelle von Flug (Frankfurt – Birmingham), an Freibad anstelle von Warwick Castle (das ich schon dreimal besichtigt habe), an ff anstelle von pp (sowohl auf dem Piano als auch auf dem Plattenteller) und die Aussicht auf allerlei Unvorhersehbares stimmen mich euphorisch.
    Das Bedürfnis, die Nachricht von meiner sturmfreien Bude in die Welt hinauszuposaunen, ist unwiderstehlich. Was ich der Welt (meinen 27 Mitschülern) verschweige, ist das Ziel, welches ich mir für dieses Wochenende gesetzt habe.
    Denn in Wahrheit dienen mir die Klassenkameraden lediglich als Testpersonen, an denen ich verschiedenste Formulierungen ausprobiere, um schließlich die eleganteste dem Cellisten vorzutragen.
    Seit unserer nächtlichen Bade- und Duschaktion ist, von einigen langen, mehr oder weniger vielsagenden Blicken abgesehen, nichts zwischen uns vorgefallen.
    Wie auch? Da wir nicht dieselbe Schule besuchen, sehe ich ihn nur zwei- oder dreimal die Woche anlässlich der Orchesterproben, wo die ständige Dreisamkeit – der Ägypter folgt mir neuerdings wie ein Schatten – jegliche Form von Annäherung, die über ein Normalmaß an Schäkerei hinausginge, verhindert.
    Das Ferienlager liegt nun bereits drei Wochen zurück, und meine Befürchtungen, dass er unser Erlebnis vergessen könnte, wachsen mit jedem Tag. Gleichzeitig kann ich mir die Frage, was ich denn wirklich von ihm will, nur äußerst unzulänglich beantworten ⁠… Die »Beziehungen«, die ich zwischen den Jungs und Mädchen meiner Klasse beobachte, erscheinen mir äußerst lächerlich, und die Vorstellung, wochenlang Hand in Hand über den Schulhof zu spazieren, um sich dann, irgendeiner Lappalie wegen, wieder zu trennen, widerstrebt mir.
    Teil eines »Pärchens« zu sein, passt weder zu dem, was ich bin, noch zu dem, was ich sein will, denn was ich sein will, ist vor allem eines: unabhängig.
    Umso mehr beunruhigt mich die Tatsache, dass mich die Intensität der Ereignisse in See und Dusche meine Bedenken, meine Vorsicht und mein Misstrauen, einfach über Bord werfen ließ, als hätte es JasminCelineJustine, ihren Selbstmordversuch und meine Handverletzung – allesamt Konsequenzen unberechenbar heftiger Gefühle – niemals gegeben.
    Der Cellist hat eine Welle ausgelöst. Eine Welle, welche die von mir erbaute Festung zum Schutze der empfindlichen Stelle hinter meinem Brustbein, mit Leichtigkeit zerstört hat.
    Er hat mich erschreckt.
    Aufhalten oder verhindern kann dieser Schrecken nichts, im Gegenteil: Angst und
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