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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein
Autoren: Lisa Kraenzler
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Schnäbelchen.
    Ich tue nicht, was ich will, sondern was ich muss.
    Seltsam unbeteiligt beobachte ich meine Pranken beim Füttern des lockigen, hungrig kreischenden Menschenkükens. 88 Tabletten später schließt sich das Schnäbelchen für immer.
    Ihr Tod fällt wie ein Stein ins Wasser. Kreisförmige Wellen schubsen mich aus dem Weg. Das Wasser ist weit, unendlich weit.
    Mein Blinzeln rafft die Zeit zusammen.
    Ich strande irgendwo. Weicher Sand und rhythmisch schwappendes, sanft gewelltes Blau. Ein Halbmond aus Meer wärmt sich den Rücken am Gelb. Ich möchte bleiben. Für immer so liegen, hier, auf dieser sandigen Heizdecke. Gedankenlos. Wellenumrauscht.
    Wer hebt mich auf? Warum? Wohin tragen mich meine Füße? Ich verschatte die Augen mit der Handkante, schaue mich um. Was ich sehe, kenne ich.
    Bucht und Strandhaus scheinen unverändert. Ich spähe in den Garten, wo Sonnenstrahlen Geländer, Pfeiler und Palmen dazu anstoßen, ihre Schatten über immergleiche Flächen zu werfen. Zielstrebig überquere ich die Veranda, verschiebe eine gläserne Tür, weiß plötzlich, wonach ich suche.
    Tatsächlich. Es hat sich nicht von der Stelle gerührt, erwartet mich seit Jahren, da, im Sonnenfleck. Ich streichle das Holz. Unser Wiedersehen braucht Melodie! Kurzentschlossen hebe ich den Deckel und erstarre.
    Vor mir klafft tonlose Schwärze. Der Deckel beherbergt nichts Spielbares mehr. Ein Geruch nach Fäulnis und Verwesung wabert aus dem zahnlosen Maul. Ich nähere mein Gesicht dem Dunkel. Mittig wölbt sich was. Ich strecke die Hand aus, berühre Feines, Gefiedertes ⁠… Eine Kralle! Kreischend taumle ich rückwärts, ringe die vor Ekel kribbelnden Hände.
    Der Vogel im Klavier ist tot. Tot, tot, tot.
    Ich weiß wer’s ist. Ich weiß es, weiß es, weiß es!
    Man sagt mir, dass ich schuld bin.
    Ich schreie mich wach.
    67.
    Zurück in der Welt, die Stirn verschwitzt. Schwer atmend registriere ich Bilder; Puzzleteile, deren Gesamtheit mein Bett, mein Zimmer, mein Zuhause ergeben müssten. Noch fehlt jeder Zusammenhang, existieren nichts als Bruchstücke; Schnipsel, die meine gebogenen Wimpernsäbel blinzelnd aus der Filmrolle schneiden, die meine Umgebung aufnimmt. Mein erster Blick – der erste Schnipsel – zeigt meine Brust, wo blau beschriebene, von meinem unruhigen Schlaf arg in Mitleidenschaft gezogene Blätter und Briefumschläge knisternd die Decke überziehen, so zerknüllt, so zerknittert, als habe man sie aus dem Papierkorb gefischt.
    Ich schiele zur Nachttischlampe, deren hellgelbes Lichtrund keine Bahnen zieht und stundenlang an meiner Seite gewacht hat. Mein erschielter Lampenschnipsel fängt auch den Wecker ein, dessen Anzeige im Widerspruch zur Helligkeit steht, die bereits das Zimmer beherrscht. So früh schon so hell?
    Um mehr als Bettdecke und Nachttisch zu sehen, muss sich mein Winkel verändern. Ich stütze mich auf die Ellbogen auf.
    Durch die dünnen, leicht transparenten Vorhangstoffe leuchten zwei milchige Rechtecke. Fahles Licht sickert ins Zimmer, mischt sich wie Deckweiß in Möbel-, Boden- und Wandfarbe, hellt auf und kühlt ab. Bläuliche Schatten erinnern an bibbernde Lippen.
    Erst jetzt erhebt sich der erste Gedanke und tritt vor: die Briefe! Die Briefe müssen weg!
    Hastig stopfe ich die Blätter zurück in den Schuhkarton. Um die Reihenfolge der Seiten zu wahren und die passenden Umschläge herauszusuchen, müsste ich mehr als grabschen und stopfen. Ich müsste hinsehen.
    Ich müsste lesen.
    Aber das kommt nicht in Frage. Unter gar keinen Umständen. Ich will diese Zeilen nie mehr wiedersehen.
    Meine Hände orientieren sich weiter am Knistern, finden die Briefe blind. Auf Zehenspitzen überquere ich das Parkett. Eiskalte Glätte beißt mir in die Fußballen. Mit so wenig Bodenkontakten wie möglich rette ich mich auf die Teppichinsel vor dem Kleiderschrank.
    Das Hochhieven des Schrankbodens bereitet die üblichen Schwierigkeiten. Ich klemme eine Schulter unter das Brett, stemme mich gegen das Gewicht von Winterkleidung und Holz und schiebe den Karton zurück in den hintersten Winkel des Schrankkellers. Der Knall des zufallenden Schrankbodens besiegelt das endgültige Verschwinden der Briefe. Ruhe kehrt in meinen Körper ein.
    Das Schuldgefühl, welches während der letzten 24 Stunden mit der Beharrlichkeit einer ausgehungerten Ratte an den Knochen und Knorpeln meines Brustbeins genagt hat, verzieht sich. Ich will nicht wissen, in welchen Schatten es kriecht.
    Meine Aufmerksamkeit
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