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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein
Autoren: Lisa Kraenzler
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TEIL 1
    1.
    Unwahrscheinlich, dass sich das Gefühl ihrer frisch gesprossenen, streichholzkopfkurzen Haarspitzen unter meiner Handfläche nach mehr als 24 Jahren noch wiedererwecken lässt ⁠…
    Glücklicherweise schert sich meine Erinnerung einen Dreck um Wahrscheinlichkeiten und lässt meine kleine, dickliche Hand wieder und wieder über ihren großen, kurzgeschorenen Kinderkopf streichen.
    Im Hintergrund grölen gnadenlose Zwergstimmen einen heute harmlos anmutenden Spitznamen: »Igel«.
    »Igel-Igel-Igel!«, tönt es aus Kinderkehlen, die so lange am I ziehen, bis ein IHHH draus wird, – wodurch aus dem Igel ein IHHH gel und somit etwas Ekelerregendes wird.
    Später hat sie behauptet, ich sei die Einzige gewesen, die sie beim Namen, ihrem richtigen Vornamen, der vielleicht Jasmin, vielleicht Celine, vielleicht Justine lautete, gerufen hat, dass meine Weigerung, es den anderen gleichzutun und ihr einen Tiernamen zu geben, unsere Freundschaft begründet hat.
    Ich hingegen halte es für viel wahrscheinlicher, dass mich das pelzige, perserteppichflauschige und dabei doch seltsam störrische Kitzelgefühl, das ihr Haar meiner Handfläche bescherte, geradezu magnetisch angezogen und eine Lust auf mehr in mir ausgelöst hat, mehrmaliges Streichen, mehrmaliges Fühlen, mehrmaliges Genießen, dieser mir bisher unbekannten Oberflächen- und Haarstruktur.
    Folglich würde ICH sagen, dass der Grundstein unserer Freundschaft keineswegs meine Enthaltsamkeit in Sachen Hänselei, sondern vielmehr jener Bordstein gewesen ist, der ihr, kurz vor Kindergarteneintritt, den Schädel gespalten hatte.
    Ich kenne den Hügel und auch die Stelle genau, an der ebendies geschah und die wir in den darauffolgenden Jahren oft mit roten X-en aus Straßenkreide markierten. Den Unfallhergang, den ich nur aus Erzählungen kenne, und das Bild einer furchtlosen Kamikaze-Jasmin oder Celine oder Justine auf einem klappernden, trotz Stützrädern wenig verkehrssicheren Zweirad, kann ich jederzeit, ohne die geringsten Schwierigkeiten und mit zuverlässiger Kameraschärfe, in mir aufrufen. Das Unfallbild, dessen Existenz ich der erwähnten Weigerung meiner Erinnerung, sich um Wahrscheinlichkeiten zu scheren, verdanke, verteidigt seinen Platz in meinem Bilderspeicher seit unglaublichen 24 Jahren, während andere »live« miterlebte Bilder längst im Trubel der Lebendigkeit verloren gegangen sind. Die Ursachen für diesen Verlust an Bildmaterial sind bislang ungeklärt und meine These, dass die durch Stoffwechselprozesse erzeugte Wärme Gespeichertes langsam zersetzt, dass mein Hitzkopf auch die hartnäckigsten Bildträger einschmilzt und verkocht, verdampft und verflüssigt, ist noch unbewiesen.
    Wenn mich, wie jetzt, plötzlich die Erkenntnis überfällt, dass die Zahl der Eindrücke, die den täglich stattfindenden Auslöschungen zum Opfer fallen, undarstellbar ist, dann erschweren Schwindelgefühle, kurze, heftige Erschütterungen des inneren Gleichgewichts, das Weiterleben. Ich schwanke, taumle vorwärts und kralle mich zuletzt, wie immer, an einer der wenigen unzerstörbaren Säulen meiner Erinnerung fest, diesen vereinzelt in der Hirnlandschaft für mich strammstehenden Gewissheiten, die nur von Demenz und Alzheimerscher Krankheit gefressen werden können, und zu denen auch das Bild deines fast fatalen Sturzes gehört.
    Die Suche nach anderen Stützen, Krücken oder Geländern verlief bislang erfolglos.
    2.
    Schädelbasisbruch und bumsen.
    Zwei Worte, die ich durch sie gelernt, gehört, begriffen habe, deren Besitzerin sie, Jasmin oder Celine oder Justine, war, ist und bis in alle Zukunft sein wird.
    Besonders bemerkenswert: Beide Buchstabenkombinationen erzählen von großen Durchbrüchen, vom Austreten von Blut-, Gehirn-, Gleit- oder Samenflüssigkeiten, von klaffenden und glitschigen Spalten, vom Eindringen und Aufnehmen, Biegen und Brechen, Leben und Tod, vom frontalen Aufprallen und von horizontalen Stößen, vom Bums, vom Krachen und Quietschen, vom Risiko, Hinfallen und Zufällen, vom Erwachsenwerden, von hart auf weich und hart auf hart und von der Allmacht der physikalischen und chemischen Gesetze, denen unser Menschsein von Anfang an unterworfen war, ist und sein wird.
    Bumsen ⁠…
    Ein Wort mit vielen Verwandten, unter denen der »Zeugungsakt« wohl eher zu den entfernten Vettern zählt ⁠…
    In meiner persönlichen Geschlechtsverkehr-Wortfamilie halten sie sich dennoch an den Händen, sodass der Sprung von »bumsen« nach
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