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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein
Autoren: Lisa Kraenzler
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löschte – und obwohl ich keine Veränderung meines Abbilds und auch beim Abtasten keinerlei Ich-Schwund entdecken konnte, traute ich mich nicht über das A hinaus.
    Als die Schlafenszeit heranrückte, entschied ich, dass mein nächtliches Ich unmöglich hinten-ohne ins Traumland entlassen werden durfte, nutzte die Schreibfunktion des Tintenkillers und reanimierte meine weibliche Endung. (Sie war blau, atmete aber.)
    6.
    Mir waren Worte immer ernst.
    Wahrscheinlich konnte ich es deshalb nicht ertragen, wenn JasminCelineJustine mit einem knappen »Ich muss aufs Klo« aus dem Spielzimmer lief, dann unten heimlich die Schuhe anzog und grußlos nach Hause verschwand, während ich auf dem Teppich saß und sehnsüchtig ihre Rückkehr erwartete.
    Nachdem sich dies ein- oder zweimal ereignet hatte, machte ich es mir zur Gewohnheit, die Geräusche, die sie beim Gang zum Klo verursachte, aufmerksam zu prüfen. Sobald ich irgendwelche Unregelmäßigkeiten feststellte, schlich ich zur Treppe und spähte durch das Geländer nach unten.
    Eines Tages war es so weit: Schon den ganzen Nachmittag hatte eine gewisse Missstimmung zwischen uns geherrscht. Halbherzig und lustlos waren verschiedene Spiele angefangen und abgebrochen worden, und ich glaube, ich habe einige ihrer Alternativvorschläge recht rigoros abgelehnt ⁠…
    Schließlich der Moment des vorgetäuschten Klogangs!
    Meiner Vorahnung folgend näherte ich mich, geduckt wie ein Kater auf der Pirsch, dem Treppengeländer.
    Da hockte sie! Die Verräterin! Klaubte ihr Schuhwerk aus dem bunten, ledrigen Haufen vor der Garderobe und begann, sich die Schnürsenkel zuzubinden.
    In meinen Schläfen pumpte und pochte es, als hätte sich mein Herz durch die Halsschlagader bis in meinen Kopf gequetscht.
    Drei, vier waghalsige Treppensprünge und schon stand ich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor JasminCelineJustines zum Gehen verschnürten Füßen.
    Wütend, zornig, die Kieferknochen so hart, dass sich die Worte nur zischend durch Zähne und Lippen pressen ließen, fuhr ich sie an: »Willste wieder abhauen?«
    Keine Antwort. Stattdessen feindseliges Schweigen.
    Mit schlitzigen Augen, die linke Oberlippenhälfte verächtlich Richtung Nase gezogen, spie ich ihr ein letztes »Feige Sau!« ins Gesicht, bevor ich auf dem Absatz kehrtmachte und triumphierend zurück ins Spielzimmer marschierte.
    Mich würde keiner bescheißen, mich nicht!

    Dinge, die dich nicht berüh ren.
    Mein Klavier.
    Strenggenommen ist es gar nicht MEIN Klavier.
    Ursprünglich war es im Besitz meiner Urgroßmutter, die das gute Stück, nachdem sich ihre Schwerhörigkeit mit zunehmendem Alter in absolute, undurchdringliche Taubheit verwandelt hatte, meiner Mutter vererbte.
    Zu dem Zeitpunkt, als ich auf dem hellhölzern-glänzenden Instrument mit den elfenbein- und lakritzfarbenen Tasten die ersten Töne anschlug, hatte meine Mutter jene mir gänzlich unbekannte Großmutter längst beerdigt und ihr eigenes Klavierspiel, bis auf ein holpriges »Für Elise«, fast vollständig verlernt.
    Das Klavier hatte seinen festen Platz auf der mit grünem Teppich ausgelegten Galerie, die nicht »Galerie« sondern »Spielzimmer« hieß, als ich zum ersten Mal auf den lederbezogenen Hocker kletterte, den Deckel anhob und den Zeigefinger auf einer zufällig ausgewählten Taste niedergehen ließ. Mit jenem ersten Anschlag erhielt das Spielzimmer einen fünf Buchstaben starken Zuschlag und wurde kurzzeitig als »Musikspielzimmer« bezeichnet, ein Ausdruck, der wegen seiner Spitzfindigkeit nicht sehr lange verwendet wurde und schnell aus dem aktiven Sprachgebrauch der Familie verschwand. Seitdem nennen wir die Galerie (schlicht, einfach und architektonisch korrekt) wieder »Galerie«.
    Auf dem über dem Wohnzimmer thronenden Balkon, zu dem sich der direkt unter dem Dach verlaufende Galeriegang verbreitert, stand und steht es also: mein Klavier.
    Ich verbringe viele Stunden vor dem breiten, 88 Zähne starken Maul, welches meinem eigenen Mundwerk nicht unähnlich sieht.
    Mein Milchzahngebiss unterscheidet sich von den Klavierzähnen darin, dass meine »schwarzen Tasten« Leerstellen, löchrige Unterbrechungen im Weiß sind, während im Klaviergebiss die schwarzglänzenden Streifen ein ganzes Stück über die Ebene der sorgfältig aneinandergereihten weißen Tasten herausragen.
    Natürlich weisen das Piano und ich noch eine ganze Reihe weiterer unterschiedlicher Eigenarten auf. Anstelle der vielen kleinen Hämmerchen, von denen ich
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