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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein
Autoren: Lisa Kraenzler
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Heimweg gleicht einem Meridian auf der Akupunktur-Figur unserer Hausärztin, führt meine Füße über zahllose Punkte, die uns betreffen. Mich und JasminCelineJustine. Erinnerungen stechen zu und zu und zu. Das ganze Dorf erzählt von uns.
    Da sind die Kastanien am Sportplatz, von denen wir im Sommer blattgrüne Fächer rissen – Fächer, die manchmal zu Fischen wurden, von denen nichts als die kahlgerupften, hellgrünen Gräten blieben. Da die Metallstangen, die Bande am Spielfeldrand, an der wir kopfüber hingen, die T-Shirts über Mund und Nase, bis uns schlecht wurde. Ich gehe weiter, folge der asphaltierten Spur, auf der wir unsere geheimen Kreidebotschaften hinterließen, folge ihr bis zur Wiese, auf der mein regenbogenfarbener Gummistiefel und Schneeflöckchen verloren gingen. Ein kleines Stück noch, dann werde ich den Randstein sehen, der dir damals den Schädel spaltete; ein Randstein mit vielen Hundert Brüdern, auf denen wir saßen, warteten, spielten. Ich begegne dem Wegkreuz, vor dem wir uns in der Dämmerung fürchteten, den Mülleimern, in denen ich die Master-Briefe verschwinden ließ, dem Hügel, an dessen Fuß unser gelber Wagen zerbrach ⁠… Wir sind überall.
    Wir sind vergangen.
    Es ist, als habe sich die Straße, die einst so leicht zu überqueren war, in einen reißenden, grauen Fluss verwandelt. Die Haltung, mit der wir uns begegnen, hat sich nicht nur verändert, sie hat sich ins Gegenteil verkehrt. Wo früher freudige Zuwendung war, ist heute beschämtes, ausweichendes Abwenden.
    Mein Beschluss, ihre traurigen Blicke nicht weiter aufzufangen, fiel bereits Wochen vor dem Selbstmordversuch.
    Wir kommen an. Der Ägypter verabschiedet sich. Ich bleibe im Hof und wage es zum ersten Mal seit Langem, das Fenster hinter der Laterne genauer zu betrachten. Ihr Fenster.
    Die Gardinen hängen stumm und still. Ich könnte nicht sagen, wo sie jetzt ist, kenne ihre Gewohnheiten und Tagesabläufe längst nicht mehr. Es hat tatsächlich funktioniert. Wir haben uns aus den Augen verloren.
    Der Wind frischt auf. Erste, eiskalte Spritzer zerplatzen auf meiner Nasenspitze. Ich gehe ins Haus.
    64.
    Die Zeitspanne bis zur Bettreife zu überbrücken, gestaltet sich schwieriger als gedacht, zumal es mir nicht gelingen will, mich mittels zeitloser Melodien abzulenken.
    Jeder Ton, den ich anschlage, klingt nach gestern, erinnert an früher, war damals schon da. Es ist, als hätten die Tasten seit Jahren sehnsüchtig auf einen Sherpa namens Schall gewartet, der ihnen die Rucksäcke voll Erinnerungen abnimmt und bis zur Erschöpfung durch die Luft trägt.
    Das deutliche Gefühl, dass all mein Fühlen, Sehen und Hören mit Vergangenem behaftet ist, deprimiert mich zutiefst.
    Seit nunmehr dreizehn Jahren arbeitet die verbindende, verknüpfende und vergleichende Maschine in meinem Kopf, und schon scheint es, als wäre das absolut neue Erlebnis, das Erlebnis ohne Anbindung an Bekanntes, Gestriges, Schondagewesenes, zur Unmöglichkeit geworden.
    Ich fühle mich zum ersten Mal alt. Die Empfindung lässt meine Finger für die Dauer einer doppelten Pause innehalten. Ihr anschließendes Weiterspielen ist mehr Reflex als Wille.
    Spielen, Atmen, Altern – alles Dinge, denen ich mich naturgemäß ergeben muss. Zwänge, die ich als mein Leben bezeichne. Absurd.
    Musik.
    Kraft.
    Unlösbare Rätsel, die in mir und durch mich existieren, mit denen ich auf unbestimmte Zeit beschenkt werde. Der Gedanke, meine Geschenke eines Tages zurückgeben, abgeben, loslassen zu müssen, ist schlichtweg unerträglich.
    Hat JasminCelineJustine Ähnliches gedacht? Wollte sie dem grausamen Lauf der Dinge zuvorkommen und selbst entscheiden, wann sie ihr Atmen und Pulsieren aufgibt?
    Mit ärgerlichem Kopfschütteln verwerfe ich diesen Gedanken, der nicht zur Wirklichkeit passen will.
    Sie hat den Notruf verständigt. Wer den Zeitpunkt seines Todes wirklich selbst bestimmen will, verständigt nicht den Notruf.
    Oder doch? All das ergibt keinen Sinn.
    Ein Sprichwort drängt sich auf, und wieder muss ich mich ärgern – schließlich befinde ich mich längst im Nachhinein, doch von Schlauheit fehlt jede Spur. Wahrscheinlich habe ich zuviel Zeit verstreichen lassen.
    Mutter und Abendbrot platzen in Grübeleien und Spiel.
    Wir versammeln uns um den Esstisch. Ich beobachte die Wege der Gabeln, ihr Einstechen, Aufspießen, zum Mund Führen und das darauffolgende Kauen und Schlucken.
    Das sind meine Eltern. Eltern, die essen, trinken, atmen, altern.
    Ich
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