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Ich bin an deiner Seite

Ich bin an deiner Seite

Titel: Ich bin an deiner Seite
Autoren: John Shors
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Amerika
    Zwei werden eins
    Wenn sich eine Tür schließt,
öffnet sich eine andere.
Amerikanisches Sprichwort
    Ian betrachtete die schlafende Mattie, deren Körper immer noch so lag, als schmiege sie sich eng an ihn. Ihre Arme lagen auf dem Kissen, das er vorsichtig neben ihrem Oberkörper platziert hatte. Das Kissen fungierte in vielen Nächten als Körperdouble, tröstete sie, wenn er nicht da war, bot ihr Wärme und einen Rest seines Geruchs. Seine zehnjährige Tochter wirkte so klein in dem großen Bett. Sie sah zerbrechlich und einsam aus, ganz verloren ohne ihn an ihrer Seite.
    Wie so oft traten Ian beim Anblick der schlafenden Mattie Tränen in die Augen, war sie doch in fast jeder Hinsicht das Ebenbild ihrer verstorbenen Mutter. Vor einigen Jahren hatte Mattie sich selbst mit dem verglichen, was sie um sie herum im Park erblickte. Ihr Haar, meinte sie, habe die Farbe von Eichenrinde. Irgendwann musste der Himmel in ihre Augen getropft sein, da war sie sich sicher, weil sie den gleichen Farbton hatten, den sie über sich sah. Ihre Mutter hatte Mattie damals gefragt, woher denn dann ihre Sommersprossen kämen, und Mattie hatte sich zögernd im Park umgesehen. Schließlich hatte sie erwidert, ihre Sommersprossen seien kleine Teile der Blätter, die ihr ins Gesicht gefallen sein mussten, während sie schlief.
    Ian fiel wieder ein, wie oft Mattie und Kate so miteinander gesprochen hatten – als teilten sie die gleichen Ansichten über die Welt. Mattie versuchte nicht, ihrer Mutter nachzueifern und ihre Charaktereigenschaften zu ihren eigenen zu machen. Es war eher so, als wäre Mattie eine Miniaturausgabe von Kate, als wäre Kates DNA ausgelesen und in Matties Verhalten und ihre Gedanken eingelesen worden. Wie ihre Mutter war Mattie künstlerisch begabt und neugierig. Ihr Herz war angefüllt mit der Liebe und dem Lachen ihrer Mutter. Egal, wohin sie zu dritt gingen, Mattie und Kate hatten sich immer an den Händen gehalten – selbst als Matties Freundinnen zu alt für diese Art öffentlicher Liebesbezeugungen wurden.
    Ian setzte sich auf die Bettkante direkt neben Mattie. Das hier war Kates Seite gewesen, und er fuhr mit den Fingern über die Laken, die sie früher gewärmt hatten. Obwohl zehn Monate vergangen waren, seit er zuletzt ihre Haut berührt hatte, spürte er den Verlust noch genauso intensiv, als wäre sie erst gestern gestorben. Er fühlte sich noch immer leer und unvollständig, als hätte seine Seele versucht, mit ihr zu gehen, und sich nicht lösen können aus der Welt aus Steinen und Schmutz. Seine Seele war in ihm eingesperrt, der Magie beraubt, die sie einst in sich trug. Nur durch seine Willenskraft und seine Liebe zu Mattie war es ihm gelungen, Stücke seiner gefangenen Seele zu reparieren – indem er die Teile zusammensetzte, so wie man es bei einer zerbrochenen Vase tat. Aber er befürchtete, dass dieser Bereich von ihm niemals wieder fliegen würde. Zumindest nicht so, wie er es einmal gekonnt hatte. Ein verletzter Vogel lernte vielleicht das Fliegen wieder, aber er würde niemals mehr das gleiche unbändige Gefühl der Freiheit empfinden. Was den Vogel auch auf den Boden gezwungen hatte, lauerte immer irgendwo in der Ferne auf ihn.
    Mattie bewegte sich im Schlaf, schob das Laken und die Decke herunter, die Ian bis zu ihrem Hals gezogen hatte. Er wiederholte das vorsichtig, dann beugte er sich vor und küsste eine Sommersprosse auf ihrer Stirn. Er überprüfte, ob auch beide Nachtlichter an waren, stand auf und ging in Richtung Tür. Er kam an einem antiken Spiegel vorbei, den Kate gegenüber von ihrem Bett aufgehängt hatte, und blieb stehen. Sein Spiegelbild hatte sich im letzten Jahr deutlich verändert. Seine ein Meter neunzig große Gestalt wirkte ein wenig gebeugt. In seinem dunklen Haar zeigten sich neuerdings einige graue Stellen an den Schläfen, eine Farbe, die sich langsam über ihn ausbreitete, als wäre es Eis, das einen See überfriert. Er hatte zwanzig Pfund Gewicht verloren, sein Körper war jetzt eher der eines Collegestudenten als der eines Mannes mittleren Alters. Selbst seine Augen hatten sich verändert – sie waren noch braun, aber die Iris dahinter wirkte verletzt.
    Ian schüttelte den Kopf. Sein Spiegelbild gefiel ihm nicht. Er verließ das Schlafzimmer. Der Rest ihres Hauses war noch fast genau so, wie Kate es eingerichtet hatte. Jede Nische und jede offene Fläche löste Erinnerungen aus, und er fragte sich, ob der Makler heute wohl irgendwelche Anrufe
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