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Ich bin an deiner Seite

Ich bin an deiner Seite

Titel: Ich bin an deiner Seite
Autoren: John Shors
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Teller mit Thunfisch vor ihm auf den Tisch.
    Ian gelang es, die Gedanken an Kate beiseitezuschieben, zumindest für den Moment. »Ich hab dich auch lieb, Ru. Ich liebe dich so sehr, dass ich nicht wüsste, was ich ohne dich tun sollte.«
***
    Die Matratze unter Mattie fühlte sich an wie ein Brett. Sie drehte sich um, weg von ihrem Vater, der seinen karierten Pyjama trug und endlich eingeschlafen war. Ihre erste richtige Nacht in Japan war nicht besonders erholsam, vor allem nicht für Mattie, die noch nie in Übersee gewesen war und eine so drastische Zeitumstellung nicht gewöhnt war. Sie fühlte sich körperlich erschöpft, doch ihr gingen tausend Gedanken durch den Kopf, so schnell, dass sie sie nicht kontrollieren konnte, sosehr sie es auch versuchte.
    Obwohl das Hotelzimmer nicht viel anders war als die zu Hause, machte die Enge Mattie nervös. Die Schrift auf der Tür war merkwürdig – irgendwie altertümlich und fremd. Die Toilette hatte, wie ihr mitten in der Nacht aufgefallen war, einen beheizten Sitz. Eine Schiebetür aus Milchglas trennte das Badezimmer vom Schlafbereich. Zwei Stahlstühle standen in der Ecke. Mattie fand, dass der ganze Raum, abgesehen von der Toilette, kaum ungemütlicher hätte sein können.
    Vorsichtig, um ihren Vater nicht aufzuwecken, stand Mattie auf. Sie zog den Reißverschluss seines riesigen Reiserucksacks auf, holte ihre Jeans und ein altes Fußball-T-Shirt heraus und zog sich an. Als sie das winzige Badezimmer betreten hatte, schloss sie die Tür und schaltete das Licht an. Ihr Haar, das ihr bis über die Schultern reichte, war völlig zerzaust. Sie nahm einen Plastikkamm des Hotels in die Hand und fing an, die Knoten auszukämmen. Sofort musste sie daran denken, wie ihre Mutter ihr das Haar gekämmt hatte. Sie hatten draußen gesessen, wenn das Wetter schön war, und hatten nach Dingen gesucht, die Mattie zeichnen konnte. Und während sie sich umsahen, war ihre Mutter ihr mit einem feuchten Kamm durch die Haare gegangen, bis jede Strähne von der benachbarten getrennt war.
    Mattie blickte in den Spiegel und sehnte sich danach, ihre Mutter hinter sich zu sehen. Doch da war nur die weiße Badezimmerwand. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie ließ den Kamm sinken, wandte sich von ihrem Spiegelbild ab. Sie wollte sich nicht sehen, wie sie alleine an einem fremden Ort weinte, deshalb verließ sie das Badezimmer. Als Mattie sah, dass ihr Vater immer noch schlief, öffnete sie ihren blauen Rucksack – eine kleinere Version von seinem. Sie holte ein Stück Papier von der Größe einer Spielkarte heraus. Das Bild hatte sie vor mehreren Jahren gemalt. Es war mit Buntstiften gezeichnet und zeigte ein kleines Mädchen in einem Kleid an der Hand seiner Mutter. Mattie hatte »Ich hab dich lieb, Mami« unter das Bild geschrieben. Ihre Mutter hatte das Bild in einen Laden gebracht und es laminieren lassen. Sie hatte es bei sich getragen, bis sie krank geworden war. Dann hatte es auf einen Tisch neben ihrem Krankenbett gelegen. Seit dem Tod ihrer Mutter gehörte Mattie das Bild. Manchmal legte sie es sich unter das Kopfkissen. Manchmal benutzte sie es als Lesezeichen. Es war nie weit von ihr entfernt.
    Während Mattie über die glücklichen Gesichter auf ihrer Zeichnung nachdachte, blickte sie sich in dem nüchternen Zimmer um und fing an zu weinen. Mit ihrem Zeigefinger fuhr sie die Umrisse ihrer Mutter nach und versuchte sich daran zu erinnern, wie sie mit einem Kamm in der Hand ausgesehen hatte. Aber anstatt des tröstlichen Lächelns ihrer Mutter sah Mattie sie in ihrem Krankenbett liegen, mit Schläuchen in der Nase und auf ihrem Handrücken. Das Gesicht ihrer Mutter war blass und schmerzverzerrt, ihre Arme dünn und schwach. Und ihr Lächeln war ein Trugbild, enthielt weder Freude noch Hoffnung, sondern nur Leiden, Trauer und Verzweiflung.
    Mattie wollte sich nicht an ihre Mutter im Krankenhausbett erinnern, nicht an ihren steten Verfall denken, daran, wie ihre Kraft immer mehr schwand, wie das Licht in ihren Augen erlosch, wenn sie mit Schmerzmitteln vollgepumpt wurde. Während sie weiter auf das Bild starrte, das sie gemalt hatte, versuchte Mattie, an ihre Mutter in glücklicheren Zeiten zu denken – beim Zelten oder beim Monopolyspielen. Aber ganz egal, wie sehr Mattie sich auch an jene Momente zu erinnern versuchte, sie sah nur das Bild ihrer Mutter am Ende, mit den Schläuchen in ihrer Nase.
    Mattie drückte das Bild gegen ihre Lippen und schloss die Augen. Sie konnte
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