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Ich bin an deiner Seite

Ich bin an deiner Seite

Titel: Ich bin an deiner Seite
Autoren: John Shors
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bekommen hatte. Ian konnte nicht mehr viel länger in diesen vier Wänden leben. Und er glaubte auch nicht, dass Mattie es konnte. Für ihn war ihr Zuhause sozusagen ermordet worden. Es war nur noch ein Skelett übrig.
    Sein Büro bot ihm wenig Trost – nur einige von Matties bunten, selbstgemalten Bildern sprachen ihm etwas Mut zu. Er blickte auf Kates Foto, aber zum ersten Mal blieb sein Blick nicht an ihren Augen hängen. Stattdessen öffnete er seinen Schrank und holte ein hübsch verpacktes Geschenk heraus, das Kate ihm vor zehn Monaten gegeben hatte, drei Tage bevor sie starb. Sie hatte ihn schwören lassen, es erst an seinem Geburtstag zu öffnen. Und er hatte das Versprechen gehalten und allen Verlockungen widerstanden.
    Ian setzte sich auf einen Stuhl und legte das Päckchen auf seinen Schoß. Er roch an dem Geschenkpapier in der Hoffnung, dass vielleicht noch eine Spur von Kate daran haftete. Er stellte sich vor, wie sie die Schleife gebunden hatte, und küsste das hübsch gewickelte kleine Band. Eine Träne lief über sein Gesicht und fiel neben die Schleife. Vielleicht waren ihre Tränen an die gleiche Stelle gefallen, dachte er und wünschte, er könnte ihre feuchte Wange noch einmal küssen.
    An dem Päckchen war keine Karte, eine Tatsache, über die er in den vergangenen zehn Monaten oft nachgedacht hatte. Es war völlig untypisch für Kate, so etwas zu vergessen, denn sie hatte Briefe immer geliebt. E-Mails und SMS waren ihr zuwider gewesen, und sie hatte nur auf diese Weise mit ihm kommuniziert, wenn die absolute Notwendigkeit dazu bestand. Ihre Nachrichten hatte sie stets mit Füller auf Papier geschrieben.
    Nach einem tiefen, beruhigenden Atemzug bewegte Ian seine Finger zum Rand des Geschenkpapiers. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Sein Nacken prickelte. Sein rechter Daumen fuhr hin und her, so als würde er eine Nummer in sein Blackberry eintippen. Er hatte Angst, dass ihm Kates Geschenk, ohne dass sie dies beabsichtigt hatte, erneut wehtun würde. Und er hatte nicht die Kraft, sich gegen weiteren Schmerz zu schützen.
    Das Geschenkpapier widerstand ihm. Das Papier war wie eine über einen Sarg gelegte Flagge, und er behandelte es mit Respekt. Kate war sorgfältig damit umgegangen, und er musste es genauso machen. »Was ist da drin, Liebling?«, fragte er leise, und sein deutlicher australischer Akzent stand in Kontrast zu den Geräuschen Manhattans, die durch das nahe gelegene Fenster hereindrangen.
    Bald kam ein Karton zum Vorschein – ein roter Schuhkarton, den er sie auch bei anderen Gelegenheiten hatte benutzen sehen. Er hob schnell den Deckel an und sah zuerst einen Umschlag. Darunter lagen ungefähr ein Dutzend schwarze Filmdosen. Ian schürzte die Lippen und öffnete den Umschlag. Er enthielt einen Brief, und der Anblick ihrer eleganten Handschrift brachte ihn zum Weinen. Sie hatte immer in Schreibschrift geschrieben, und selbst dem Tode so nah und von Schmerzen gequält war ihre Hand ruhig und ohne Hast über das Papier geglitten.
    Ian,
    wusstest Du, dass man die Liebe mitnimmt, wenn man stirbt? Ich bin dessen so sicher, denn während der letzten Monate, die ich hier gelegen habe und immer weniger geworden bin, ist meine Liebe zu Mattie und Dir nur noch gewachsen. Nichts ist in diesen Tagen noch in mir außer meiner Liebe zu euch beiden. Und diese Liebe schießt in die Höhe wie tropisches Gras, stellt alles darunter in den Schatten und streckt sich nach dem Licht und der Wärme. Vor einem Jahr hätte ich nicht gedacht, dass ich einen von euch noch mehr lieben könnte. Aber ich habe mich geirrt. Ich sah nur den Baum vor mir, einen zugegeben wirklich wunderschönen Baum, aber nicht so schön wie der Wald, der ihn umgab. Ich liebe Dich. Ich liebe Dich. Ich liebe Dich.
    Es ist ein solcher Segen, dass ich Dir begegnen durfte, obwohl uns bestimmt das Schicksal zusammengeführt hat. Warum sonst haben wir beide beschlossen, in Japan Englisch zu unterrichten? Ich, ein Mädchen aus Manhattan. Du, ein Junge aus dem australischen Busch. Die himmlischen Mächte müssen unsere Begegnung arrangiert haben. Das war der Anfang unserer Geschichte. Das Ende wird niemals geschrieben werden. In der Mitte sind wir durch die Welt gereist und haben zusammen eine liebevolle Tochter geschaffen.
    Weißt Du noch, wie wir am Tadsch Mahal waren und unser Fremdenführer uns vom Kaiser und seiner Frau erzählte? Er liebte sie so sehr. Und als sie starb, fragte er sie, ob sie noch etwas brauche. Sie bat ihn nur um
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