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Nach Santiago - wohin sonst

Nach Santiago - wohin sonst

Titel: Nach Santiago - wohin sonst
Autoren: Peter Lindenthal
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ununterbrochen strömender Regen bei eiskaltem Wetter! Kein Blick links, kein Blick rechts, nur auf die vor Nässe quietschenden Schuhe, mechanisches Setzen der Schritte — und Dauerfluchen. Die Siesta entfiel, da weit und breit kein trockener Flecken und kein Gebäude zum Unterschlüpfen in Sicht war (die Refugios in Galizien öffnen erst um 17 Uhr). „Krönender“ Abschluß des Tages waren dann noch der Marsch entlang der Landepiste des Flughafens von Santiago — wieder eine neue Erfahrung! — , welcher der historische Pilgerweg zum Opfer gefallen war, und der Riesenfrust, der mich bis zum „Berg der Freude“ begleitete. Der Kilometerstein mit der Ziffer 0, der ja signalisieren müßte, daß ich angekommen bin, steht mitten in der Pampa, vom Monte del Gozo keine Spur, ganz zu schweigen von Santiago selbst. Da muß sich jemand gewaltig vermessen haben!
    An diesem Tag beschäftigte mich nur ein Gedanke, von beschaulicher Meditation keine Rede: Ich möchte endlich ankommen , ich habe genug!

    Sonntag, 23. April Santiago

Am Ziel — oder erst am Anfang?

    Die letzten Stunden meiner Pilgerfahrt brechen an. Seit jeher waren Verrichtungen, wenn ich sie bewußt zum letzten Mal tat, etwas Besonderes für mich. Diesmal, wo eine Reise zu Ende geht, die ich sicher mein Leben lang nicht vergessen werde, die vielleicht sogar zu den wichtigsten Weichenstellungen in meinem Leben gehört, ist es fast, als täte ich alles in Zeitlupe — und ich will es auch so.
    Teewasser aufstellen, mein karges Pilgerfrühstück zu mir nehmen, alleine in dieser Baracke, die 112 Personen faßt; das Geschirr verstauen, die Zähne putzen (geduscht habe ich schon gestern abend), den Schlafsack zusammenrollen, den Rucksack packen, die Schuhe anziehen. Ich nehme Abschied von all den kleinen Verrichtungen, die während der letzten zwei Monate mein Dasein ausgemacht haben. Als ich den Monte del Gozo — ihn werde ich sicher nicht vermissen! — verlasse, schlafen meine brasilianischen Freunde noch, ich werde sie sicher später am Tag in der Stadt wiedersehen. Alleine nehme ich die letzten fünf Kilometer hinunter in die Stadt in Angriff. Meine Rechnung geht auf, fast kein Mensch ist an diesem sonnigen Frühlingssonntagmorgen auf der Straße, und ich kann die letzte Stunde, die letzten Schritte zur Kathedrale, alleine und in Stille zurücklegen. Euphorie wäre das falsche Wort, um meine Gefühle zu beschreiben. Eher ist es eine tiefe Zufriedenheit, die ich empfinde — und auch Stolz, es geschafft zu haben. Auch beim Anblick der Kathedrale und des riesigen, menschenleeren Platzes vor ihr macht mein Herz keinen Sprung, kein Jubelschrei löst sich von meinen Lippen, keine Tränen der Emotion treten mir in die Augen, ich küsse auch nicht den Boden. Aber ich genieße den Moment des Ankommens, indem ich eine ganze Weile dastehe, auf meinen Stab gestützt, und die Kathedrale betrachte. Jetzt bin ich also da! Überrascht stelle ich fest, daß sich auch Trauer in meine Zufriedenheit und meine Freude mischt. Das Ziel ist auch das Ende dieser Reise, es heißt Abschied nehmen vom Pilgerleben!
    In dieser verwirrenden Mischung von widersprüchlichen Gefühlen betrete ich die Kathedrale, in der sich nur wenige Menschen befinden, ganz wie ich es mir gewünscht habe. Am Portico de la Gloria lege ich meine Hand an die Marmorsäule und deponiere meine Wünsche in den fünf tiefen Löchern, die die Finger von Millionen von Pilgern vor mir in den Marmor gegraben haben. Wie viele Hände mögen es wohl gewesen sein, die zustande gebracht haben, was man nicht für möglich halten würde? Der Anblick der Vertiefungen im so unüberwindlich scheinenden Stein stimmt mich optimistisch, zeigen sie mir doch, was Menschen schaffen können, wenn sie gemeinsam für ein gemeinsames Ziel handeln — und Geduld haben über Jahrhunderte.
    An der Rückseite des Portico lege ich meine Stirn an die marmorne Stirn von Don Mateo, dem Erbauer der Kathedrale. Seine Weisheit soll so auf mich übergehen. Nach diesen beiden Ritualen, denen sich jeder Pilger unterzieht, setze ich mich auf eine Kirchenbank, um einige Minuten zu danken und zu beten, Rucksack, Stock und Hut liegen neben mir. Ich höre, wie sich hinter mir die Kathedrale langsam mit Besuchern füllt, achte aber nicht weiter darauf, bis jemand leicht meine Schulter berührt. Als ich aufblicke, sehe ich eine ältere Dame, offenkundig eine Touristin, die mich schüchtern, in holprigem Spanisch, fragt, ob sie vielleicht ein Photo von
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