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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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die Bibel hat irgendein Spaßvogel ein pornografisches Bild gelegt. Auf den Tapeten sind Blumen. Blaue Blumen, vielleicht auch gelbe. Aber ich sage nichts. Ich sage nie mehr etwas.
    Der Arzt erklärt mir, wo ich mich befinde, und ab und zu nicke ich, um zu verbergen, dass ich ihm nicht zuhöre. Schließlich hält er mir ein Klemmbrett hin, auf dem ein Formular befestigt ist. Er sagt, wenn ich hierbleiben wolle, müsse ich diese Einverständniserklärung unterschreiben. Er reicht mir einen Kugelschreiber, und ich setze meine Unterschrift an die vorgesehene Stelle. Vielleicht ist es ein Vertrag, mit dem ich eine hundertbändige Enzyklopädie bestelle, vielleicht verkaufe ich gerade meine Organe oder bevollmächtige die Klinik, neue Medikamente an mir zu erproben. Es ist mir egal. Ich kritzle meine Signatur hin, in der vom Arzt erhofften schlafwandlerischen Mechanik, eine nach oben und unten hektisch ausschlagende Tintenspur, ein Seismogramm meiner kümmerlichen Seele, gedrängt, unleserlich. Der Arzt betrachtet sie und verbirgt Ratlosigkeit und Enttäuschung, lächelt, verabschiedet sich und geht.
     
    Die ganze Nacht liege ich halbwach da. Draußen, weit entfernt, fahren Autos. Ab und zu dringt ein verwehtes Hupen an meine Ohren, als läge ich an Deck eines Schiffes, dem ein anderes durch den Nebel zuruft. Meine Zunge schmerzt. Ich bewege sie und spüre, dass sie dicker ist als sonst, geschwollen. Vielleicht habe ich auf sie gebissen, als ich ins Wasser fiel. Mit der rechten Hand taste ich den Kopf ab. Eine Beule sitzt darauf wie ein kleiner alberner Hut.
    Ich stelle mir vor, wie ich aufstehe und das Krankenhaus verlasse. Aber ich bin müde. Arme und Beine fühlen sich zu schwer an, als dassich sie bewegen könnte. Außerdem bin ich so gut wie nackt. Meine Kleider und Schuhe hat man mir abgenommen, was ich sonst dabeihatte, weiß ich nicht. Und eigentlich will ich gar nicht weg. Wohin sollte ich denn gehen? Das Hotel war schäbig und bevölkert von alten Männern. Dorthin will ich nicht zurück.
    Eine Schwester, von der ich nur den unglaublich dicken Körper wahrnehme, betritt das Zimmer und stellt sich ans Fußende des Bettes. Ich starre an die Decke. Wenn ich nie mehr rede, lässt man mich vielleicht in Ruhe. Die Schwester sieht, dass ich nicht schlafe. Bestimmt hat man ihr gesagt, ich sei der Stumme aus dem Meer. Jedenfalls geht sie weg, ohne ein Wort an mich zu richten. Ihr Duft, Desinfektionsmittel und Schweiß, bleibt da.
     
    Ich fahre durch einen hellen Tunnel. Schliefe ich, würde ich erwachen. Es ist still. Licht fließt an den Scheiben vorbei. Der Hund liegt am leuchtenden Rand der Straße, sein Fell bewegt sich im Wind. An seinem Hals erkenne ich ein rotes Band, vielleicht ist es auch Blut. Ich rufe dem Fahrer zu, er solle anhalten, aber er hört mich nicht, aus meinem Mund kommen keine Worte. Alles wird weiß, immer weißer, als falle Schnee. Wir fahren weiter, hinein ins blendende Herz. Wäre ich wach, würde ich die Augen schließen. Ich erkenne Dinge und versuche mich an ihre Bedeutung zu erinnern. Alles liegt weit zurück, viele Atemzüge, viele Jahre. Der Körper des toten Hundes löst sich auf, sein gleißender Rand wandert in die Mitte und schmilzt. Ich sehe ihm nach und forme einen Namen, schreibe ihn an die Scheibe, spiegelverkehrt, verschwindend.
     
    Als ich aufwache, ist es noch immer dunkel. Das Geräusch meines Atems füllt den Raum. Ich spüre den Druck auf meiner Blase, ein leichtes Stechen, heftiger als die Kopfschmerzen. Wasser will meinen Körper verlassen, was gut ist. Der Gedanke, dass wir zu achtzig Prozent aus Flüssigkeit bestehen, ist mir zuwider. Ich taste nach einem dieser Plastikgefäße, in die man sich erleichtern kann, finde aber nichts, auch nicht auf den Regalen der Kommode, die neben dem Bett steht.
    Den Mann nehme ich erst wahr, als er sich aufrichtet. Er ist ein schwarzer Berg, auf dessen Kuppe eine kurz gehaltene Wiese steht. Statterschrocken bin ich empört über seine plötzliche Anwesenheit. Ich frage mich, seit wann er im Zimmer ist. Wurde er samt Bett hereingerollt, als ich schlief? War er schon vor mir da, verborgen von einem Vorhang, der zurückgezogen wurde? Ich lege mich wieder auf den Rücken, unterdrücke den Drang, Wasser zu lassen, und sehe an die Decke. Der Mann ächzt, vielleicht ist es auch sein Bettgestell.
    »Bist du wach?« Seine Stimme ist tief und rasselt ein wenig, als würden die Worte durch einen Stollen aus grob gehauenem Stein kollern. Er
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