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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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anderen Jungen helfen könne, bis sie irgendwann, seine Absicht ahnend, eingewilligt hatte. Erst sollte sie einem Achtjährigen zur Hand gehen, der unbedingt ein Pferd zeichnen wollte. Einer hatte sich vorgenommen, heimlich stricken zu lernen. Einem anderen brachte sie bei, eine Krawatte zu binden.
    Innerhalb weniger Wochen lernte Alice alle Jungen kennen und hatte plötzlich ein Gesicht, eine Stimme, meistens sogar eine Geschichte zu den Namen. Wenn sie jetzt eine Akte anlegte oder neue Einträge in bestehende machte, kannte sie das Kind, das dahinterstand. Jetzt wusste sie, woher der kleine Rodney Summers kam und warum er sich im Geräteschuppen versteckte, wenn ein Auto auf den Vorplatz fuhr. Warum Jimmy Barrett Häuser ohne Dächer malte und kein Huhn aß. Sie erfuhr, dass Alan Warchowski in einem kleinen blauen Buch eine Liste der Dinge führte, die er liebte, und in einem schwarzen diejenigen, die er hasste. Dass Jeffrey Green den Kopfstand machen und dabei eine Flasche Limonade trinken konnte. Dass Paul Hewitt in Sarah Morton verliebt war und Gedichte für sie schrieb, die er ihr nie zeigte.
     
    Die Mädchen in Chestnut Hill verfolgten staunend und neidisch, wie sich Mrs. Krugshank plötzlich um die Jungen kümmerte. Wenn die in ihren Augen riesige und außerirdisch schöne Frau mit ein paar besonders mutigen Jungs im leeren Speisesaal Walzer übte, standen die Mädchen auf Schemeln hinter den Türen und beobachteten durch die Oberlichter das seltsame und wunderbare Treiben. Als Alice einer Gruppe von Jungen auf dem Vorplatz zeigte, dass sie das Hufeisenwerfen seit ihrer Kindheit nicht verlernt hatte, drückten sich die Mädchen an den Fensterscheiben die Nase platt. Alice war mit ihrer neuen Aufgabe so beschäftigt, dass sie die sehnsüchtigen, vorwurfsvollen und manchmal feindseligen Blicke der Mädchen nicht wahrnahm. Erst als eines Tagesdie fünfjährige Ruby Fletcher mit einem zerfledderten Stoffhasen im Arm in ihr Büro trat und fragte, ob Alice sie nicht leiden könne, wurde ihr klar, dass sie ihre Zuwendung ungerecht verteilt hatte.
    Noch am selben Abend las sie den Mädchen im Aufenthaltsraum seitenweise aus einer Illustrierten vor, die eine Kollegin im Büro abonniert hatte und die überquoll vor Klatschgeschichten über Hollywoodstars, Musiker und Sportler. Die Mädchen lauschten den Skandalen und Romanzen begeistert und ignorierten dabei die grimassenschneidenden Köpfe der Jungs hinter den Oberlichtern. Am nächsten Tag brachte Alice den Mädchen bei, wie man Lockenwickler benutzte, am Tag danach, wie man Jungs auf sich aufmerksam machte und die allzu aufdringlichen loswurde. Natürlich waren es jetzt die Jungen, die sich vernachlässigt fühlten, und Alice beschloss, ihre Stunden aufzuteilen. Am Montag, Mittwoch und Freitag war sie für die Jungen da, Dienstag, Donnerstag und Samstag gehörte sie den Mädchen. Den Sonntag hielt sie für Lawrence frei. Und für Wilbur.
     
    Was ein Sonntag war, wusste Wilbur nicht. Für ihn war es einfach eine wundersam in die Länge gezogene Zeit, während der dauernd etwas passierte, er ständig herumgetragen, durch die Gegend gefahren und hochgehoben, öfter als üblich abgeküsst und nie alleine gelassen wurde. Er spürte, dass einmal in der Woche beinahe alles stimmte, dass das, was er vermisste, für eine Weile ersetzt wurde durch etwas, das er mochte. Schien die Sonne, wurde er rittlings und mit einem Hut auf dem Kopf in einen Korb gesteckt, der an einem Fahrradlenker befestigt war. Dann ging es aufs Land, wo er zum ersten Mal riesige Kühe sah und Mähdrescher. Er saß auf Alices Schoß in einem Ruderboot, und Fische schwammen durch sein Spiegelbild, in dem er sich nicht erkannte. Über ihnen flogen Vögel, nach denen er griff, als störten sie die Leere seines Himmels. In den Wiesen, in denen sie zu dritt lagen, gelang es ihm überzeugend, sein Interesse an Ameisen, Käfern und Schmetterlingen zu verbergen. Doch obwohl Wilburs scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber allem, was sie zusammen unternahmen, Alice und Lawrence Sorge bereitete, sah der Junge immer, wenn er hochgehoben wurde, in strahlende Gesichter. Diese Sonntage waren angefüllt mit Lachen undSingen, dem quäkenden Ton der Fahrradhupe, Kirchenglocken und Vogelzwitschern, den Geräuschen des Glücks.
     
    Alice trocknete Wilbur ab und zog ihm den Schlafanzug an. Wenn sie ihr Gesicht über seines brachte, sah der Junge an ihr vorbei an die Decke. Am Anfang hatte sie das wütend gemacht und
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