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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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leben wollte, vor den Altar schleppen. Als sie ihn verließ, weil es noch andere Frauen gab, ohne die er nicht leben wollte, war sie zwanzig. Er wurde kurz darauf von einem Bullen zertrampelt, und sie machte eine Ausbildung zur Krankenschwester.
     
    Kam ein Findelkind ins Saint Francis, gehörte es zu Schwester Lorraines Aufgabe, ihm einen Namen zu geben. Sie benutzte dabei eine Liste mit alphabetisch angeordneten Vornamen, die sie der Reihe nach abhakte. Mittlerweile war sie beim Buchstaben W angelangt, und dem winzigen Jungen im Brutkasten, der seit zwölf Tagen entweder schrie oder vor Erschöpfung schlief, fiel der Name Wilbur zu. Sie hatte seine Mutter gesehen, einmal nur und ganz kurz, als diese halb bewusstlos in den Entbindungssaal geschoben worden war. Nach ihrem Tod hatte Schwester Lorraine ihre Kolleginnen gefragt, aber keine konnte sich erinnern, ob die Frau erwähnt hatte, wie sie ihr Kind nennen wollte. Auch der junge Arzt, dem zum ersten Mal eine Frau bei der Geburt weggestorben war und der noch Tage danach mit leerem Blick durch die Flure ging, konnte ihr nicht weiterhelfen. Den Vater des Kindes hatte Schwester Lorraine nie gesehen. Die Frau am Empfang wusste nur, dass er schmal und schüchtern war und vor lauter Sorge um seine Frau geweint hatte. Er habe sich in den Besucherraum gesetzt und dort eine endlos lange Zeit der Ungewissheit verbracht, die um fünf Uhr zwanzig morgens zu Ende war, als man ihm die Nachricht vom Tod seiner Frau überbrachte. Er sei eine Weile stumm dagesessen, als habe er die Tragweite des Gehörten nicht begriffen, dann sei er aufgestanden und gegangen. Der Arzt habe ihm nachgerufen, das Kind, ein Junge, sei am Leben, aber der Mann habe nur kurz gezögert und das Krankenhaus dann rasch verlassen.
     
    Als ihre Schicht zu Ende war, legte Schwester Lorraine den Bezug, auf dem WILB zu lesen war, in einen Schrank und fuhr nach Hause. Statt wie üblich in den Park ging sie mit Bob nur ein paar Schritte die Straße hinunter. Sie fütterte ihn, trank eine Tasse Kaffee im Stehen und nahm dann ein Bad. Danach zog sie ihr bestes Kleid an, ein ärmelloses schwarzes, das sie nach einem Katalogbild selber geschneidert hatte, ließ sich ein Taxi kommen und zu einem Theater in der Innenstadt fahren.
    March And April gefiel Lorraine so gut, dass der Kummer, den der tagelang weinende Wilbur ihr bereitete, für eine Weile verschwand. In dem Stück ging es um eine junge amerikanische Lehrerin namens April Baxter, die im Paris der Jahrhundertwende den exzentrischen englischen Maler Frederic March kennenlernt. Die beiden können sich zu Beginn nicht ausstehen, doch nach neunzig Minuten Irrungen und Wirrungen sind sie ein Paar. Was da auf der Bühne geboten wurde, war weder Broadway noch Shakespeare, aber dank der Extraportion Romantik und Leidenschaft genau das, was Lorraine brauchte.
    Nach der Vorstellung blieb sie eine Weile im Foyer und betrachtete die ausgehängten Plakate und Fotos. Ein Mann stellte sich hinter sie, und sein Gesicht wurde vom Glas des Schaukastens reflektiert. Lorraine erkannte den Darsteller des Frederic March und drehte sich so erschrocken um, dass der Mann laut lachen musste. Mit jedem der drei Akte hatte Loraine sich mehr in den Schauspieler verliebt, das warme Gefühl nach dem letzten Vorhang aber als alberne Schwärmerei belächelt, wie sie es auch nach dem Abspann im Kino tat, wenn das Licht sie in die Wirklichkeit zurückholte. Montgomery Field, so hieß der neben der Bühne kleiner und irgendwie verloren wirkende Mann, bot Lorraine eine Zigarette an, und obwohl sie nicht rauchte, ließ sie sich von ihm Feuer geben.
     
    Drei Tage später, als die Theatertruppe weiterzog, ging Lorraine mit. Den Hund, der immer Mittelpunkt ihres privaten Lebens gewesen war, gab sie ihrem Bruder, ihren Hausrat schenkte sie einem wohltätigen Verein. Im Krankenhaus sagte sie allen Adieu und machte einen letzten Besuch auf der Säuglingsstation.
    Wilburs von den Glaswänden gedämpftes Schreien hörte sie schonim Flur und war zuerst erstaunt und dann besorgt, als es verstummte, sobald sie die Tür öffnete. Der schrumpelige Winzling mit der durchsichtigen Haut lag in seinem Brutkasten wie ein seltsames Tierchen, das man zu Forschungszwecken an Schläuche und Kabel angeschlossen hatte. Seine Augen waren leicht geöffnet, und Falten standen auf seiner Stirn, als hätte er Kopfschmerzen oder würde nachdenken. Er bewegte sich nicht, nur sein runder, von einem Geflecht aus blauen Arterien
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