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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Backsteingebäuden bestehende Anlage hatte bis in die fünfziger Jahre als Kaserne gedient, und sie stand weder auf einem Hügel, noch hatte sie auf ihrem bescheidenen Grund auch nur einen einzigen Kastanienbaum vorzuweisen. Den idyllischen Namen hatte sich ein Komitee ausgedacht, das dem traurigen Zweck des Anwesens, Waisen zu beherbergen, etwas Positives gegenüberstellen wollte. Immerhin lag das Heim außerhalb der Stadt, und von den obersten Zimmern im Ostflügel konnte man das Footballfeld einer Highschool sehen, was zumindest den Jungs im Heim lieber war als langweilige Kastanienbäume.
    Lawrence Krugshank, der Leiter des Traktes, wo die Jungen im Alter zwischen wenigen Wochen und zehn Jahren untergebracht waren, wickelte Wilbur am Nachmittag in eine Wolldecke und trug ihn in den Park, der an die Weide eines Bauernhofs grenzte. Leute aus der Stadt hatten ihre Reitpferde auf dem Hof einquartiert, und ab und zu kam eines der Tiere an den Zaun, um sich von den Kindern bestaunen zu lassen.
    »Sieh mal, Wilbur, ein Pferd«, sagte Lawrence und nahm Wilburs Hand, damit sie die zarten weißen Nüstern berühren konnte. Aber Wilbur zog die Hand zurück und fing an zu weinen. Lawrence drückte ihn an sich, ging zurück ins Gebäude und schaukelte den Jungen in den Armen, beruhigend auf ihn einredend. Kinder grüßten ihn auf den Fluren, und er lächelte und zwinkerte ihnen zu. Zwei Jungen, die ihn daran erinnerten, dass er mit ihnen im Hof Baseball spielen wollte, vertröstete er auf später. Er bemühte sich, allen seinen Schützlingen gleich viel Aufmerksamkeit und Zuneigung entgegenzubringen, aber es war ein offenes Geheimnis, dass er an Wilbur einen Narren gefressen hatte.
     
    Während Wilburs ernste Züge die meisten Betreuer verstörten, sah Lawrence darin etwas, das er scherzhaft infantile Weisheit nannte. Er war sicher, dass dieses Kind einen Grund dafür hatte, eine solche Miene aufzusetzen. Er nahm sich vor, Zeuge zu sein, wenn Wilburs Gesicht zum ersten Mal eine Gemütsregung zeigte, die Zufriedenheit, vielleicht sogar Glück ausdrückte. Und er setzte alles daran, diesem Glück auf die Sprünge zu helfen.
     
    Vierzig Tage war es jetzt her, dass die Sozialarbeiterin aus Philadelphia den kleinen Jungen in die Obhut des Heims gegeben hatte, wo er so lange bleiben sollte, bis die vorgeschriebene Frist abgelaufen war, während der Verwandte des Kindes das Sorgerecht beantragen konnten. Wilburs Vater hatte sich nicht mehr im Saint Francis gemeldet, und eine Suchaktion, bei der die Polizei, lokale Zeitungen und Fernsehstationen beteiligt gewesen waren, verlief ergebnislos. Der Mann, dessen Name in den Akten mit Lennard Arne Sandberg angegeben war, schien vom Erdboden verschwunden zu sein. In einer Zeitungsmeldung vom elften April 1980 wurde ein Beamter der Polizei von Philadelphia mit der Vermutung zitiert, Lennard Sandberg habe sich aus Gram über den Tod seiner Frau das Leben genommen.
    Bei seiner Ankunft in Chestnut Hill war Wilbur gesund gewesen, aber noch immer zu klein und zu dünn. Er lag in einer Trage, für die man im Krankenhaus gesammelt hatte, und sein Kopf verdeckte die auf das Kissen gestickten Buchstaben W, I, L und B. Seine Augen waren groß und dunkelbraun, und Warren Clarence Rush, der Direktor des Heims, war versucht, Resignation darin zu erkennen.
    Wilbur, inzwischen fast drei Monate alt, legte dank eines neuen Speiseplans stetig an Gewicht zu. Hatten die Schwestern im Saint Francis ihn noch ausschließlich mit der Flasche gefüttert, so wurde er hier auch mit Getreide- und Obstbrei, Vitamintropfen und Lebertran aufgepäppelt. Die Flasche, an der Wilbur scheinbar gelangweilt nuckelte, während er die Decke musterte, gab es nur noch zweimal pro Tag. Lawrence besorgte vom benachbarten Bauern Stutenmilch, die besonders nahrhaft war und die er mit eigenem Geld bezahlte. Er ließ nie locker, bevor Wilbur alles gegessen und getrunken hatte, wog den Jungen und ließ seine Fraudas Gewicht in eine Liste eintragen, stolz, dass täglich ein paar Gramm dazukamen.
     
    Alice Krugshank war mit einem Meter vierundachtzig drei Zentimeter größer als ihr Mann und überragte sämtliche weiblichen Kräfte in Chestnut Hill um mindestens zehn. Sie hatte rötliches Haar, und ihre Haut war von einer Helligkeit, die Lawrence verliebt perlmuttern und alabastern, sie selber aber einfach bleich nannte. Ihre Körperlänge und ihr sicheres Auftreten, das mit einer dunklen, festen und gleichzeitig warmen Stimme einherging,
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