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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Erde klebt. Ich stakse den Gang entlang, biege um eine Ecke, komme an ein Treppenhaus. Ich gehe hinunter, glaube, Stimmen zu hören. Um nicht zu fallen, greife ich mit beiden Händen das Geländer, bewege mich seitwärts. Musik, wie sie in Kaufhäusern gespielt wird, weht nach oben.
    Plötzlich schwappt bleierne Müdigkeit durch meinen Körper, aber statt mich hinzusetzen, tappe ich weiter. Am Ende der Treppe betrete ich taumelnd ein Schiffsdeck. Mir ist kalt, das muss die Müdigkeit sein. Bunte Fische schwimmen vor meinen Augen. Ein einfältiges Lied, eine Girlande aus hohen Tönen, legt sich neben das dumpfe Pochen in meinem Kopf.
    Mir ist heiß, ich zittere mit kalten Füßen. Der Boden hebt und senkt sich unter den Wellen. Ein Mann, leuchtend in seinem gelben Hemd, kommt auf mich zu. Sein Gesicht ist freundlich, und trotz seiner kräftigen Statur wirkt er nicht bedrohlich. Dass ich mittlerweile auf dem Boden sitze, merke ich erst, als ich zu dem Mann aufblicke. Er sagt etwas, aber ich verstehe ihn nicht. Die Augen fallen mir zu, die Musik und die Schmerzen verlassen meinen Kopf, meine Blase entleert sich.

The Verdict
1982
    Die Wellen schienen gegen die Mauern zu schlagen, aber es war nur der Wind, der in Böen Regen ans Haus warf. Wilbur lag in seinem Bett und sah ins Dunkel, wo Balken knarrten, wenn das Dach sich anzuheben schien unter dem Druck einer besonders mächtigen Luftwoge. Ein dickes Kissen begrub das Kind unter sich, dessen Kopf hervorschaute wie aus einer Schneewehe. Es war Nacht, und er hätte gerne die leuchtende Blume gesehen, die auf dem Lampenschirm neben der Tür blühte, aber sie lag nicht in seinem Blickfeld.
    Als unweit des Hauses die von einem heftigen Windstoß aufgerissene Scheunentür gegen den Rahmen krachte, fing Wilbur an zu weinen. Wenn es draußen so laut toste, dass sein dünnes Stimmchen darin unterging, wartete er und schrie in der kurzen Pause, die der Sturm zum Atemholen brauchte. Nahm der Lärm erneut für einen Moment ab, schrie er nochmals, und meistens hörte er in der darauffolgenden Lücke die dunkle Stimme, die ihm Angst machte, und die helle, die er liebte. Dann weinte er wieder, aber nur, um augenblicklich damit aufzuhören, sobald sie die Tür öffnete, ihn unter der Decke hervorzog und in die Arme nahm. Nach einem letzten Schluchzer war er still und lauschte ihrer Stimme. Er schmiegte den Kopf an ihre Brust und gab sich mit geschlossenen Augen dem Schaukeln ihres Oberkörpers hin und dem Singsang, der flüsternd das wütende Toben des Sturms ausblendete.
    Im Spätsommer des letzten Jahres hatte Eamon McDermott in Begleitung eines Anwalts seinen Enkelsohn aus Chestnut Hill geholt. Nach einem langen Papierkrieg mit den amerikanischen und irischen Behörden zu müde, um sich als Sieger zu fühlen, war er vor dem Heim aus einem Taxi gestiegen und auf Lawrence Krugshank zugegangen, abwartend, ob der Mann ihm die Hand entgegenstrecken würde. Krugshank musste für diesen Gruß alle Kraft, die ihm noch geblieben war, aufbringen, schüttelte Eamons Hand und die des Anwalts und führte die Männer durch einen leeren Flur zu dem Büro, wo die letzten Formalitäten erledigt wurden. Warren C. Rush und eine Mitarbeiterin des Sozialamtes warteten auf die beiden. Eamon sprach während der ganzen Prozedur kein Wort. Er nickte, wenn sein Anwalt ihm etwas erklärte, setzte seine Unterschrift dorthin, wo es verlangt wurde, und wollte dann so rasch wie möglich den Jungen holen.
    Alice Krugshank brachte es nicht fertig, den Mann zu sehen, der ihnen ihr Kind wegnahm. Sie saß auf dem Bett im Schlafzimmer ihrer Wohnung, die in einer der ehemaligen Offiziersunterkünfte etwas abseits des Hauptgebäudes lag, knetete einen Wollfäustling, den sie für Wilbur gestrickt hatte, und starrte auf den Fleck an der Wand, an der eben eine halbvolle Kaffeetasse zerschellt war. Als sie den Motor des Taxis hörte, kippte sie seitlich auf das Bett, zog die Knie an und weinte.
    So fand ihr Mann sie, als er zwei Stunden später den Raum betrat und Wilbur auf dem Weg zum Flughafen war.
     
    Als Eamon in Sligo aus dem Zug stieg, der ihn und eine Handvoll Leute, vor allem amerikanische Touristen auf der Suche nach ihren Wurzeln, von Dublin in den Nordwesten gebracht hatte, fühlte er sich noch immer nicht als Sieger. Auch nicht, als er seine Frau sah, die die lange Fahrt mit dem Bus auf sich genommen hatte, um ihren Enkel willkommen zu heißen. Wilbur hatte im Taxi vor dem Heim angefangen zu weinen und, mit
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