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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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wenigen Unterbrechungen, in denen er rot verfärbt und schweißnass wegdämmerte, bis zu seiner Ankunft in Dublin nicht wieder aufgehört. Kaum auf irischem Boden gelandet, verstummte er jedoch, was Eamon als Zeichen deutete, dass der Junge spürte, wohin er gehörte.
    Im Bus konnte Eamon den mit blauem Nylonstoff eingefassten Tragekorb, den Lawrence Krugshank ihm aufgedrängt hatte und in dem Wilbur lag, seiner Frau auf den Schoß stellen. Froh, die Reise endlich hinter sich zu haben, hielt er sich an seinem Koffer fest, in dem, eingewickelt in einen Pullover, die Urne mit Maureens Asche lag. Orla schälte den Jungen aus den Tüchern und Decken, prüfte den Zustand der Windeln, die eine Stewardess der Aer Lingus über Neufundland gewechselt hatte, herzte ihren neuen Schatz und ließ nicht von ihm ab, bis der Bus auf dem Dorfplatz von Kindrum hielt.
     
    Was Wilbur von seiner neuen Welt sah, war umstellt von Mauern. Regnete es nicht und war es nicht zu kalt, wurde er auf eine Wolldecke in die Mitte der asphaltierten Fläche gesetzt, die man durch die Küchentür erreichte. Die Mauern waren unverputzt und hätten die Wände eines Anbaus sein können, dessen Errichtung man vertagt oder verworfen hatte. Zwei Holzstühle, ein Ascheimer und ein schwarzes Fahrrad standen in ihrem Schatten, in einer Ecke lagerte gestochener Torf unter einer Plane, Heizmaterial für den Winter. Auf dieser Decke hatte Wilbur gelernt, auf allen vieren zu kriechen und wie man auf zwei wackligen Beinen steht.
    Auf dieser Decke saß er jetzt, hielt mit beiden Händen einen geschnitzten Holzesel fest, sah auf die Mauer, hinter der das Meer lag, und wartete auf sie. Er hörte, wie die Wellen an die Küste rollten, ein sanftes Rauschen, dazwischen riefen Möwen, die manchmal, vom Wind hergetragen, hoch über seinem Kopf auftauchten. In den ersten Wochen hatte Wilbur nach ihnen gegriffen, doch irgendwann die Vergeblichkeit seiner Bemühungen eingesehen und aufgehört. Stattdessen rieb er den Kopf des Holzesels auf dem Asphalt, bis Nüstern und Maul abgeschliffen waren.
    Wenn sie endlich kam, warf er den Esel in die Luft, worauf sie jedes Mal jubelnd in die Hände klatschte. Dann hob sie ihn hoch und trug ihn in die Küche, wo sie ihn auf den Schoß nahm, ihm zu essen gab und scheinbar wahllos drauflos erzählte, Geschichten aus Büchern, Zeitungsmeldungen, Witze, Horoskope, Wetteraussichten, Nachbarstratsch, Hochzeiten, Geburten, nie Todesfälle. Sie redete ohne Punktund Komma, die Worte kamen aus ihr heraus, als müsste sie den Jungen in möglichst kurzer Zeit mit möglichst vielen davon versorgen, als seien sie Bestandteil seiner Ernährung.
     
    Orla McDermott war eine Frau, der man auch nach zweiundsechzig Jahren noch hätte ansehen können, dass sie einmal sehr schön gewesen war. Aber hier draußen, mehr als zwanzig Kilometer von Kindrum und einen Steinwurf vom Meer entfernt, gab es niemanden, der sich für den warmen Glanz in ihren schwarzen Augen oder die sinnliche Form ihrer Lippen interessiert hätte. Niemandem fielen ihre schmalen Hände auf, in deren Fingerspitzen Zärtlichkeit schlief, niemandem die hohen Wangenknochen, über die sich sonnenbraune, von unzähligen haarfeinen Fältchen geriffelte Haut spannte.
    Früher blieben die Männer in Galway auf der Straße stehen, wenn sie an ihnen vorbeiging, mit federndem Schritt und einem Lächeln im Gesicht, das spöttisch war für die dreist Glotzenden und ermunternd für die verschämt Schmachtenden. Ihre Familie, deren Wurzeln mütterlicherseits in Spanien lagen, besaß zwei Fischkutter, die Alicante und die Galway Grace . Drei Männer, einen Onkel und zwei Cousins von Orla, hatte das Meer genommen im Tausch gegen einen Teil seines Schatzes, der die Schiffsbäuche mit zappelndem Silber füllte. Reich wurden die O’Learys mit dem Fischfang nicht, aber es reichte, um die älteste Tochter auf eine gute Schule in England zu schicken.
    Hätte ihr Vater, der sich nach Tagen auf See stundenlang mit Seife abschrubbte, um den Fischgeruch loszuwerden, geahnt, dass Orla nicht vorhatte, ihr in den drei Exiljahren erworbenes Wissen jemals für etwas anderes anzuwenden, als ihrer Mutter beim Lösen von Kreuzworträtseln zu helfen, hätte er sie gleich in seinen Laden gesteckt, hinter dessen Verkaufstheke sie glücklich war. Er betrachtete es als Verschwendung von Talent, als verpasste Gelegenheit, ja als Sünde, dass seine intelligente Tochter Makrelen und Kabeljau verkaufte, statt in London oder Paris
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