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Nach dir die Sintflut

Nach dir die Sintflut

Titel: Nach dir die Sintflut
Autoren: Andrew Kaufman
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haben, und er bekam Angst. Er konnte nicht wissen, wohin man ihn brachte. Lewis streckte die linke Hand aus und stieß gegen die Fensterscheibe und tastete sich bis zum Türgriff hinunter. Er öffnete die Tür nicht, behielt
den Griff aber fest in der Hand. Dann bremste das Auto ab und blieb stehen, und Lewis fühlte einen Wind aus der anderen Richtung an seinen Hosenbeinen zerren.
    Jemand zupfte an seinem Ärmel, und Lewis kletterte aus dem Taxi. Er fühlte Regen auf Gesicht und Händen. Die Tropfen krachten herunter. Seine Kleider waren schnell durchnässt. Auf dem Gehsteig stolperte er, aber der Fahrer hielt seinen Ellenbogen und stützte ihn. Langsam stiegen sie eine Treppe hinunter. Lewis wusste, sie befanden sich in einem Kino, denn der Regen hatte aufgehört und es roch nach Popcorn.
    »Danke«, sagte Lewis und hob seine Brieftasche in die Höhe, die ihm aus der Hand genommen und nur Sekunden später in Lewis’ Hosentasche zurückgesteckt wurde. An seinem Ellenbogen war eine neue Hand. Sie fühlte sich weiblich an.
    »Ich würde mir gerne den beliebtesten Film ansehen, der gerade bei Ihnen läuft«, sagte Lewis und hielt noch einmal die Brieftasche hoch. Mit der Frauenhand an seinem Ellenbogen lief er einen leicht abschüssigen Gang hinunter. Dann drückte die Hand ihn sanft nieder. Lewis spürte einen Plüschsessel unter sich.
    »Danke«, sagte er. Die Hand drückte seine Schulter.
    Lewis wusste nicht, welcher Film lief oder wann es für ihn losgehen würde. Er konnte sich nicht einmal sicher sein, ob überhaupt ein Film lief und ob außer ihm noch andere Leute im Saal waren. Er saß auf seinem Platz und fühlte sich zunehmend unwohl, weil seine Hose und seine Jacke feucht vom Regen waren. Nach einer Weile, die Lewis bedeutend länger erschien als ein durchschnittlicher Spielfilm, hörte er etwas. Es handelte sich weder um Musik noch um Dialog. Lewis hörte keinen Film. Er hörte, ganz leise, das Publikum.
    Die Ereignisse auf der Leinwand machten dem Publikum Angst, woraufhin es still wurde. Lewis begriff, dass die Leute
Angst hatten, und er bekam ebenfalls Angst. Als das Publikum zum zweiten Mal still wurde, wusste Lewis, es war traurig, und auch er wurde traurig. Er konnte hören, wann die Leute nervös, aufgeregt oder hoffnungsvoll wurden, und er fühlte mit ihnen.
    Bald konnte er den Film hören, die Musik, die Geräusche und die Dialoge, was er jedoch ignorierte. Lewis konzentrierte sich nur auf die Zuschauer und reagierte wie sie. Kurz vor dem Ende des Films, der Junge hatte eben das Herz des Mädchens erobert und das Publikum war erleichtert, weil alles gut ausging, schaute Lewis an sich hinab und merkte, dass er sich das Hemd auf links angezogen hatte.

Zweiundfünfzig
    Das Dach des Prairie Embassy Hotels
    Aby beobachtete ihre Mutter, die unter Wasser atmete. Margaret atmete tief und selten ein. Aby hatte sich jahrelang gefragt, wie ihre Mutter beim Wiedersehen aussehen würde. Unzählige Male hatte sie Kindheitserinnerungen altern lassen, hatte Margarets Haar ergrauen lassen und die Falten um die Augen vertieft. Aber das Gesicht, das Aby nun sah, ähnelte den Fantasiebildern kein bisschen. Das Gesicht ihrer Mutter war auf eine Weise gealtert, die Aby niemals hätte voraussehen können. Nicht nur die Zeit, auch das wasserlose Leben hatte Margarets Gesicht gezeichnet.
    Aby ließ sich unter die Wasseroberfläche sinken und legte ihren Kopf neben Margarets. Sie atmete ein, sie atmete aus. Sie verlangsamte ihre Atemzüge, bis sich ihre Kiemen im Gleichtakt mit denen ihrer Mutter bewegten. Aby fühlte eine tiefe Trauer, als sie sich den Gedanken gestattete, dass die Mutter, an die sie sich erinnerte und die zu retten sie gekommen war, nicht existierte und vielleicht nie existiert hatte. Aby überlegte kurz, dann schlang sie ihre Arme um Margaret und schwamm los.
    Aby schwamm halb und halb ging sie, als sie sich unter Zuhilfenahme des Geländers in den dritten Stock schleppte. Sie kam nur langsam voran. Im dritten Stock hielt Aby nicht inne, sondern ließ sich von der Strömung in den vierten hinauftragen. Die Flut stieg fast so schnell in die Höhe wie sie, und als sie die Tür zu Zimmer 401 am Ende des Gangs öffnete, reichte das
Wasser ihr bis an die Taille. Aby stieß das einzige Fenster auf. Sie schulterte ihre Mutter und kletterte auf das Dach des Prairie Embassy Hotels.
    Dort legte sie ihre Mutter ab. Margaret musste husten, als die Luft in ihre Lunge drang. Überall auf dem Dach lagen tote Vögel
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